Die Seenotrettungsorganisation Sea-Watch initiiert juristische Schritte gegen die deutschen Grenzkontrollen. Mit der erneuten Verlängerung der Kontrollen seit September 2024 und den jüngsten Vorschlägen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz sieht Sea-Watch nicht nur zentrale Prinzipien der Europäischen Union, sondern auch grundlegende Menschenrechte verletzt. Die Organisation fordert die EU Kommission deshalb zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren auf.
Sea-Watch kritisiert die rechtswidrigen Grenzmaßnahmen, die Schutzsuchende unrechtmäßig zurückweisen und grundlegende Menschenrechte verletzen – ein klarer Verstoß gegen EU-Recht. Der Europäische Gerichtshof hatte ähnliche Praktiken bereits eindeutig in seinen Verfahren gegen Ungarn verurteilt. Das Verwaltungsgericht München entschied am 31. Januar 2024 zudem, dass die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze gegen EU-Recht verstoßen. Sea-Watch legt deshalb Beschwerde bei der EU Kommission ein und fordert sie zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland auf. Die Organisation fordert ein sofortiges Ende der Kontrollen und einen offenen, menschenrechtskonformen Schengen-Raum.
„Diese Kontrollen sind ein staatlich organisierter Rechtsbruch. Sie sind unverhältnismäßig und menschenrechtswidrig“, sagt Oliver Kulikowski, Sprecher von Sea-Watch. „Sie schaffen kein Mehr an Sicherheit, sondern treiben Menschen in die Illegalität und zwingen sie auf gefährlichere Fluchtrouten.“
Merz’ Vorschläge verschärfen die Lage
Der sogenannte 5-Punkte-Plan von Friedrich Merz sieht unter anderem dauerhafte Grenzkontrollen zu allen Nachbarstaaten, ein generelles Einreiseverbot für Personen ohne Einreisepapiere und die Inhaftierung schutzsuchender Menschen in leerstehenden Kasernen vor. Abschiebungen sollen “täglich” auch in Kriegsgebiete wie Syrien und Afghanistan stattfinden. Diese Forderungen sind ein offener Bruch mit internationalem Völkerrecht.
„Die Bundesregierung hat mit den rechtswidrigen Grenzkontrollen Merz‘ Forderungen Tür und Tor geöffnet. Merz‘ Vorstoß will das Asylrecht und den Rechtsstaat abschaffen. Die Brandmauer ist nichts wert, wenn die anderen Parteien AfD-Politik umsetzen. Merz macht sich in der Hoffnung auf Wählerstimmen zum nützlichen Idioten für Rechtspopulisten. Grüne und SPD dürfen jetzt nicht für eine Regierungsbeteiligung einknicken.”, so Kulikowski weiter.
Erinnerung an historische Verantwortung
80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erinnert Sea-Watch an die historische Verantwortung Deutschlands und der internationalen Staatengemeinschaft. Das Recht auf Asyl begründet sich nicht zuletzt in der Vertreibung, Verfolgung und Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden durch Deutschland.
„Merz gedenkt den Opfern von Auschwitz und will dann das Asylrecht weiter abschaffen. Das Recht auf Asyl ist eine Lehre aus der deutschen Vergangenheit. Wer daran rüttelt, verhöhnt die Opfer von Verfolgung und Vertreibung“, merkt Kulikowski an.
Vertragsverletzungsverfahren
Gemäß den EU-Verträgen kann die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein EU-Land einleiten, welches EU-Recht nicht umsetzt. Die Europäische Kommission kann die Angelegenheit zudem an den Europäischen Gerichtshof verweisen, der finanzielle Sanktionen verhängen kann.
Sea-Watch reicht Beschwerde gegen die allgemeinen deutschen Grenzkontrollen bei der Europäischen Kommission ein. Diese wurden erst im September 2024 ausgeweitet und verlängert und stehen im klaren Widerspruch zu EU-Recht. Folgende EU-Rechte werden verletzt: Artikel 3 Abs.(2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), Artikel 67 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die Verordnungen des Schengener Grenzkodex (neue Fassung). Die Maßnahmen untergraben zudem die Grundrechte auf Freizügigkeit (Art. 45 EU-Charta), Asyl (Art. 18) und Schutz vor unrechtmäßiger Rückführung (Art. 19).
EuGH Urteil gegen Ungarn
Im Fall „Kommission gegen Ungarn“ (C-808/18) vom 17. Dezember 2020 entschied der EuGH, dass Ungarn durch die Einführung von restriktiven Grenzmaßnahmen gegen EU-Recht verstieß. Dazu gehörten unter anderem: Der unrechtmäßige Ausschluss von Asylsuchenden vom Asylverfahren; Die Schaffung sogenannter „Transitzonen“, in denen Asylsuchende ohne angemessene rechtliche Prüfung festgehalten wurden; Die unmittelbare Rückschiebung von Migranten an die Grenze ohne individuelle Prüfung. Diese Maßnahmen wurden als Verstoß gegen mehrere Artikel der EU-Grundrechtecharta bewertet, insbesondere das Recht auf Asyl (Art. 18), den Schutz vor unrechtmäßiger Rückführung (Art. 19) und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47).
Im Juni 2024 verhängte der EuGH eine Geldstrafe gegen Ungarn in Höhe von 200 Millionen Euro, begleitet von einem täglichen Zwangsgeld von 1 Million Euro, um den Druck auf Ungarn zu erhöhen und seine Gesetzgebung zu ändern.
In weiteren wichtigen Entscheidungen in Bezug auf den Schengener Grenzkodex hatte der Europäische Gerichtshof betont, dass eine vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen ein letztes Mittel seien und nur in Ausnahmefällen und zeitlich begrenzt eingesetzt werden dürfen (EuGH, NW gegen Landespolizeidirektion Steiermark und Bezirkshauptmannschaft Leibnitz, C-368/20, 26. April 2022).