Eine gemeinsame Erklärung von Ärzte ohne Grenzen (MSF), Alarm Phone, Mediterranea Saving Humans und Sea-Watch
Am 26. September 2022 wurden 23 Menschen auf Anweisung der maltesischen Seenotrettungsleitstelle (RCC) nach Ägypten gebracht. Zuvor wurden sie in der maltesischen Such- und Rettungszone (SAR) von dem unter der panamaischen Flagge fahrenden Handelsschiff SHIMANAMI QUEEN gerettet. Zum Zeitpunkt der Rettung befanden sich die Menschen an Bord des kleinen Bootes bereits seit vier Tagen unter schlechten Wetterbedingungen und mit sehr begrenzten Wasser- und Nahrungsvorräten auf See.Laut Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen ist das RCC Malta rechtlich für die Koordinierung von Rettungsmaßnahmen in seiner SAR-Zone zuständig. In diesem Fall jedoch, wies das RCC Malta Handelsschiffe in unmittelbarer Nähe des Boots in Seenot an, entweder ihre Fahrt fortzusetzen oder lediglich in Bereitschaft zu bleiben, wodurch eine Rettung erheblich verzögert wurde. Durch fehlende klare Anweisungen und unnötige Verzögerungen bei der Koordinierung einer Rettung, wurde das Leben der 23 Menschen vorsätzlich in akute Gefahr gebracht. Dies ist eine gängige Praxis der maltesischen Behörden, um zu vermeiden, selbst an Rettungen beteiligt zu sein und um zu verhindern, dass Personen in Malta ankommen. Dieses Verhalten wurde bereits in mehreren Fällen von zivilen SAR-Organisationen beobachtet und dokumentiert. (1) (2)
In diesem Fall war das RCC Malta ebenfalls nicht bereit dazu, mit zivilen SAR-Organisationen zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass eine Rettung so schnell wie möglich durchgeführt wird. Nach der Rettung nutzte der RCC Malta das Handelsschiff SHIMANAMI QUEEN, um die feindliche Migrationspolitik Europas und Maltas durchzusetzen, indem es das Schiff anwies, die geretteten Personen nach Ägypten zu bringen.
Laut dem Grundsatz der Nichtzurückweisung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (Art. 33(1)), dürfen Vertragsstaaten eine Person nicht „über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.” Nach diesem Grundsatz müssen auf See gerettete Personen an einen sicheren Ort gebracht werden, „an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse […] gedeckt werden können“. (3)
Im Fall vom 26. September wurden die 23 Personen weder in Malta noch in Italien an Land gebracht, obwohl diese der Rettungsposition mit 159 bzw. 146 Seemeilen geographisch am nächsten waren. Stattdessen wurden die Geretteten unter Zwang 760 Seemeilen nach Ägypten gebracht. Ägypten hat zwar die Genfer Konvention von 1951 unterzeichnet, verfügt aber nicht über einen entsprechenden nationalen Rechtsrahmen für den Schutz von Flüchtenden und Asylsuchenden.
Als Organisationen aktiv in der Such-und-Rettung auf See, verurteilen wir den gewaltsamen Transfer der 23 Menschen nach Ägypten und fordern Konsequenzen für Maltas eklatante Verletzungen des See- und Völkerrechts.
Ärzte ohne Grenzen (MSF), Alarm Phone, Mediterranea Saving Humans und Sea-Watch fordern ein Ende dieser schweren Menschenrechtsverletzungen im zentralen Mittelmeer und entlang der EU-Außengrenzen, die direkt von europäischen Staaten durch private Akteur:innen begangen werden. Europäische Rettungsleitstellen müssen ihren rechtlichen Verantwortungen nachkommen und die sofortige Rettung von Menschen in Seenot mit der anschließenden Anlandung an einem sicheren Ort in Europa garantieren.
Nachstehend folgt eine detaillierte Zusammenfassung und Rekonstruktion der wichtigsten Ereignisse zwischen dem 22. und 26. September 2022:
22.09.2022
14:24 UTC: Mail von Geo Barents an MRCC Rom und RCC Malta, mit Alarm Phone in CC, in der über den Seenotfall informiert und eine GPS-Position weitergeleitet wird.
14:43 UTC: Alarm Phone spricht mit den Personen in Seenot und erhält eine neue GPS-Position.
19:52 UTC: Geo Barents sendet eine E-Mail an RCC Malta mit der Bitte um ein Update zum Seenotfall und um Anweisungen.
20:53 UTC: Alarm Phone sendet E-Mails an MRCC Rom, RCC Malta, UNHCR Italien und Malta, an die Reedereien der Handelsschiffe, die sich in der Nähe des Seenotfalls befinden (SONA STAR, TOKYO PIONEER, HOSANGER, DELTA MED, CHEMROAD DITA) mit SAR-NROs in CC. Alarm Phone teilt erneut die Position des Boots mit und weist darauf hin, dass sich fünf Handelsschiffe in dem Gebiet aufhalten und das Wetter schlechter wird.
21:14 -21:37 UTC: Alarm Phone ruft mindestens sechsmal bei RCC Malta an und bittet um Informationen über das in Seenot geratene Boot. Entweder klingelt das Telefon und die Leitung wird unterbrochen, der Anruf endet in einer Warteschleife oder der diensthabende Beamte hat keinen Zugriff auf die E-Mails.
21:25 UTC: Alarm Phone ruft MRCC Rom an. MRCC Rom bestätigt den Erhalt der von Alarm Phone geschickten E-Mail und sagt, dass sie keine weiteren Informationen geben können. Als Alarm Phone nach der Beteiligung von Handelsschiffen fragt, wiederholt der Beamte, dass sie keine Informationen weitergeben und legt auf.
23.09.2022
00:57 UTC: Alarm Phone ruft die Personen in Seenot an und bekommt eine aktualisierte GPS-Position des Boots.
03:26 UTC: Geo Barents sendet eine E-Mail an RCC Malta und bittet um ein Update.
05:57 UTC: Sea-Watch ruft RCC Malta an. Der Beamte am Telefon entgegnet: „Wir wissen von dem Fall, wir arbeiten daran, aber wir haben noch kein Update“, „es wird weiter nach ihnen gesucht.“
07:01 UTC: Geo Barents sendet eine E-Mail an RCC Malta und MRCC Rom und erklärt ihre Suche aufgrund des schlechten Wetters (bis zu 35 Knoten Wind und starker Regen) für beendet. Geo Barents erklärt, dass sie zu diesem Zeitpunkt mehr als 150 Seemeilen von der letzten bekannten Position entfernt sind und von keinem der sich in der Nähe zum Seenotfall befindenden Schiffe eine Antwort erhalten hat. Geo Barents erinnert RCC Malta als zuständige Behörde der SAR-Zone daran, seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Koordinierung und Zusammenarbeit nachzukommen, um das Risiko des Verlustes von Menschenleben zu verringern.
07:09 UTC: Sea-Watch ruft RCC Malta an und bekommt immer noch keine Updates. Der diensthabende Beamte bestätigt, dass Malta die Rettung koordiniert: „Im Moment darf ich nichts sagen, aber das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass wir den Fall koordinieren und daran arbeiten, aber wir haben noch keine Informationen darüber“. Der Beamte weiß, dass sich das Wetter verschlechtert:
07:29 UTC: Seabird 2 entdeckt den Seenotfall in der maltesischen Such- und Rettungszone. Die Handelsschiffe GAZ SERENITY und HAFNIA TAGUS sind vor Ort.
07:41 UTC: Das Handelsschiff HAFNIA TAGUS bestätigt Seabird 2, dass RCC Malta den Fall koordiniert und dass sie „von MRCC Malta angewiesen wurden, das Boot zu überwachen.“
HAFNIA TAGUS sagt: „RCC Malta wird ein anderes Schiff zur Rettung dieses Bootes schicken. […] In der Zwischenzeit müssen wir in Position bleiben und nach dem Boot Ausschau halten und das Boot überwachen.“
08:20 UTC: Sea-Watch ruft RCC Malta an. Der Beamte bestätigt: „Wir erhalten Ihre E-Mails“. Auf die Frage, ob eine Rettungsaktion eingeleitet wird, erhält Sea-Watch die Antwort: „Ich kann Ihnen diese Information nicht geben, ich gebe diese Information an das zuständige RCC, Sie sind eine NGO, ich kann Ihnen diese Information nicht geben“, „Ich kann Ihnen keine geschätzte Ankunftszeit geben. Ja, wir koordinieren den Fall, wir stehen in Kontakt mit den Handelsschiffen, das kann ich bestätigen, wir kennen die Wetterlage sehr gut“. Als Sea-Watch ein letztes Mal nach der voraussichtlichen Ankunftszeit eines Rettungsschiffes fragte, legt der diensthabende Beamte auf.
09:28 UTC: Das Handelsschiff HAFNA TAGUS teilt Sea-Watch mit, dass „BOUX5 kommt, um zu helfen, und sie werden ihnen Treibstoff bringen. Das Boot braucht Treibstoff“. Außerdem teilt HAFNIA TAGUS Seabird 2 mit: „Bitte beachten Sie, dass ich von RCC Malta angewiesen wurde, keine Anweisungen von Ihnen entgegenzunehmen, bitte kontaktieren Sie RCC Malta für weitere Kommunikation.“
10:08 UTC: Seabird 2 sichtet die Handelsschiffe GAZ SERENITY, CHINAGAS LEGEND und HAFNIA TANGUS, die sich um das Boot in Seenot positioniert haben und ihm Schutz geben. Das Handelsschiff SHIMANAMI QUEEN hat seinen Kurs in Richtung des Seenotfalls geändert.
15:20 UTC: Sea-Watch ruft RCC Malta an: „Bitte verstehen Sie, dass Sie die Seenotrettungsleitstelle anrufen, Sie sind eine NGO, ich kann diese Informationen nicht mit NGOs teilen, ich kann meine Absichten nur mit meinem Chef, dem zuständigen RCC, teilen, was Sie nicht sind“, „Ich kann Ihnen sagen, dass wir koordinieren, wir wissen über den Fall Bescheid.“
17:54 – 18:02 UTC: Die Handelsschiffe HAFNIA TAGUS, GAZ SERENITY und SHIMANAMI QUEEN verlassen den Seenotfall.
18:35 UTC: Alarm Phone ruft Handelsschiff HAFNIA TAGUS an. Der Beamte bestätigt, dass die Menschen von einem anderen Schiff gerettet wurden und dass er keine Informationen weitergeben darf, sondern für weitere Einzelheiten das RCC Malta kontaktiert werden muss.
24.09.2022
10:45 UTC: Das Handelsschiff SONA STAR ruft die Brücke der Geo Barents an, nachdem Geo Barents eine E-Mail an die Zentrale geschickt hat. Die SONA STAR teilt mit, dass sie das Boot in Seenot nicht gesichtet hat und von RCC Malta angewiesen wurde, ihren Kurs wieder aufzunehmen.
17:52 – 18:35 UTC: Geo Barents mailt Thenamaris (SEA VELVET), wisdomlines (SAKIZAYA TREASURE), Angloeastern group (CHEMROAD DITA), Nishin Co (TOKYO PIONEER), Misuga Kaiun (SHIMANAMI QUEEN) und bittet um Informationen über das Boot in Seenot.
25.09.2022
07:32 UTC: Geo Barents erhält eine E-Mail vom Kapitän des Handelsschiffs CHEMROAD DITA, in der er mitteilt, dass RCC Malta sie angewiesen hat, ihren Kurs wieder aufzunehmen, bevor sie den Seenotfall erreichten.
09:32 UTC: Das Handelsschiff CHEMROAD DITA bestätigt Geo Barents, dass RCC Malta sie gefragt hat, ob sie Treibstoff für das in Seenot geratene Schiff haben. Schließlich war HAFNIA TAGUS bereits vor Ort, weshalb RCC Malta CHEMROAD DITA wieder freigestellt hat.
26.09.2022
07:15 UTC: Geo Barents ruft im Büro der Reederei MISUGA KAIUN an und fragt nach der Telefonnummer der Brücke des Handelsschiffs SHIMANAMI QUEEN. Der Mitarbeiter sagt, dass sie angewiesen wurden [unklar von wem], keine Informationen weiterzugeben und bittet, JRCC Kairo zu kontaktieren.
08:08 UTC: Geo Barents erhält eine E-Mail von MISUGA KAIUN, in der bestätigt wird, dass das Handelsschiff SHIMANAMI QUEEN die 23 Personen an Bord genommen hat, und bittet darum, JRCC Kairo zu kontaktieren.
10:08 UTC: Sea-Watch ruft das JRCC Kairo an, das bestätigt, dass die von der SHIMANAMI QUEEN geretteten Personen in Port Said, Ägypten, an Land gehen sollen: „Wir sind über den Fall informiert und warten darauf, dass sich das Schiff Port Said nähert, um ein Marineschiff zu schicken, das die Menschen zurück nach Ägypten bringt“. Zusätzlich erklärte das JRCC Kairo: „Ich weiß nicht, warum das JRCC Malta die Menschen nicht aufgenommen hat“. Das JRCC Kairo bestätigte, dass Malta die Rückführung der SHIMANAMI QUEEN nach Ägypten koordiniert hat: „Malta hat die Entscheidung getroffen.“
17:17 UTC & 18:38 UTC: Sea-Watch ruft RCC Malta zweimal an. Beide Male sagen sie, sie seien beschäftigt und Sea-Watch solle eine E-Mail schicken.