VOS Triton bringt 170 Personen durch illegalen „Push-back by Proxy“ nach Libyen zurück
Ein Bericht von Mediterranea Saving Humans, Watch The Med – Alarm Phone & Sea-Watch
Am 14. Juni 2021 wurden etwa 170 Menschen, nachdem sie von dem Handelsschiff VOS TRITON in internationalen Gewässern gerettet worden waren, an die sogenannte Libysche Küstenwache übergeben und nach Libyen zurückgeschickt, was als „Pushback by Proxy“ bezeichnet werden kann. Die Überlebenden, die sich entschieden hatten, ihr Leben zu riskieren, um Libyen zu entkommen, hätten an einen sicheren Ort gebracht werden müssen, wie es die internationale Seefahrt vorschreibt. Stattdessen wurden sie nach ihrer Ankunft in Libyen in Gewahrsam genommen, einem Land, das von der internationalen Gemeinschaft weder als sicheres Land noch als sicherer Ort anerkannt ist und von dem bekannt ist, dass es Gefangene systematischen Formen von vorsätzlicher Gewalt aussetzt, einschließlich sexueller Gewalt wie Vergewaltigung und Folter. Nur eine Woche nach dieser erzwungenen Rückführung nach Libyen beschloss die Organisation Ärzte ohne Grenzen, ihre Tätigkeit in zwei Haftzentren in Tripolis einzustellen, da die Inhaftierten dort inakzeptablen Formen von Gewalt ausgesetzt sind.
Während jeden Monat Tausende von Menschen gewaltsam auf See aufgefangen und unter diesen gewalttätigen Bedingungen zurückgeschickt werden, ist dieser Fall besonders alarmierend, weil ein Handelsschiff, die VOS TRITON beteiligt ist. Das Schiff ist im Besitz der niederländischen Firma Vroon, deren italienisches Büro für das Schiff verantwortlich ist und fährt unter der Flagge von Gibraltar. Dieser Fall stellt einen weiteren illegalen Pushback nach Libyen dar, der durch einen privaten Akteur ermöglicht wurde (siehe einen ähnlichen Vorfall am 2. Mai 2021). Es ist eine weitere Verletzung des internationalen Seerechts, der Menschenrechte und des Asylrechts an Europas Grenzen – denn da Libyen kein sicherer Ort ist, kann die Rettung der Menschen nicht als abgeschlossen betrachtet werden.
Wir fordern ein Ende dieser orchestrierten Menschenrechtsverletzungen im zentralen Mittelmeer und an allen europäischen Grenzen, die entweder direkt von europäischen Behörden oder durch die Delegation an libysche Behörden oder private Unternehmen begangen werden. Wir fordern die Wiedereinführung des derzeit nicht existierenden staatlichen Rettungsprogramms Europas. Wir fordern ein Ende dieses gewalttätigen Grenzregimes, das Menschen dazu zwingt, ihr Leben zu riskieren, um in Sicherheit zu gelangen. Stattdessen fordern wir das Recht auf sichere Fluchtwege und Bewegungsfreiheit für alle.
Es folgt eine kurze Zusammenfassung des Falles, sowie eine detaillierte Zeitleiste der Ereignisse, die zum Pushback führten:
Zusammenfassung des Falls
Die etwa 170 Menschen an Bord des überfüllten Holzbootes riefen das Alarm Phone an, als sie in internationalen Gewässern in Seenot gerieten. Sie trieben mit einem kaputten Motor nur 6 Seemeilen vor der maltesischen Such- und Rettungszone. Trotz wiederholter E-Mails und Anrufe des Alarm Phones bei allen Behörden wurde zehn Stunden nach dem ersten Alarm noch keine staatliche Rettungsoperation eingeleitet. Stattdessen wurde das Handelsschiff VOS TRITON zu dem in Not geratenen Boot geschickt. Das zivile Aufklärungsflugzeug Seabird von Sea-Watch traf etwa zur gleichen Zeit vor Ort ein und konnte beobachten, wie mehrere Personen aus dem überfüllten Boot ins Wasser sprangen, um schwimmend die VOS TRITON zu erreichen. Schließlich, nach etwa einer Stunde, hatte es das Handelsschiff geschafft, alle Menschen aus dem Holzboot an Bord zu nehmen und fuhr in Richtung Süden.
Um 18:17 Uhr MESZ am 14. Juni – 16 Stunden nach dem ersten Anruf bei dem Alarm Phone – konnte das Sea-Watch-Flugzeug Seabird beobachten, wie sich die VOS TRITON mit der Absicht, die geretteten Menschen zu übergeben, neben dem Schiff der sogenannten Libyschen Küstenwache, „Zawiya“, positionierte.
Trotz mehrerer Versuche, die VOS TRITON über Funk zu erreichen und der vielen E-Mails und Telefonanrufe an die Reederei, fand die Übergabe der Menschen an die sogenannte Libysche Küstenwache statt. Auch von IOM und UNHCR wurde diese Operation bestätigt und verurteilt.
Detaillierte Zeitleiste des Falles
In der Nacht von Sonntag, dem 13. Juni, auf Montag, den 14. Juni, erhielt das Alarm Phone einen Anruf über ein Boot in Seenot mit ca. 170 Personen an Bord (zu dem Zeitpunkt hieß es, es seien ca. 200 Personen).
Das Holzboot trieb in internationalen Gewässern, nur 6 Seemeilen von der maltesischen Such- und Rettungszone (SAR) entfernt. Die Menschen an Bord teilten mit, dass ihr Motor kaputt sei.
Um 2:17 Uhr MESZ erhielt das Alarm Phone die Position “N 34°13.079′ E 011°56.005’”, welche an alle Behörden – italienische, maltesische, tunesische und libysche – weitergeleitet wurde.
Um 03:43 Uhr erreichte das Alarm Phone das Rescue Coordination Center in Malta (RCC), wo ein Offizier die Information aufnahm und sagte, dass er den Fall untersuchen und eine Rettungsoperation einleiten würde.
Im Laufe der nächsten Stunden riefen die Menschen an Bord des überfüllten Bootes immer wieder das Alarm Phone an. Ihre Lage war ernst: Sie hatten schon am Vortag kein Essen und kein Wasser mehr und waren von der Reise erschöpft. Eine Person war verwundet und benötigte dringend medizinische Hilfe. Dem Alarm Phone wurde mitgeteilt, dass sich der Gesundheitszustand einiger Frauen verschlechterte und „Menschen sterben“. Die Menschen an Bord teilten ebenfalls mit, dass sie nicht nach Libyen zurückkehren wollen, wo sie nach eigenen Angaben gefoltert und inhaftiert wurden.
Um 07:56 Uhr erreichte das Alarm Phone das Maritime Rescue Coordination Center in Rom (IMRCC). Der italienische Beamte bestätigte, dass die Informationen und E-Mails über das Boot bei ihnen eingegangen waren, sagte aber nichts über eine geplante Rettungsoperation. Die sogenannte Libysche Küstenwache war telefonisch nicht zu erreichen.
Obwohl die Behörden, Frontex und der UNHCR regelmäßig per E-Mail mit allen relevanten Informationen und den neuesten GPS-Positionen in Kenntnis gesetzt wurden, war nach mehr als 10 Stunden (!) immer noch kein Schiff der Küstenwache unterwegs. Am frühen Morgen versuchte das Alarm Phone das nur wenige Seemeilen entfernte Handelsschiff Maridive 230 zu alarmieren, aber das Schiff veränderte seinen Kurs nicht.
Um 11:54 Uhr reagierte das Büro des italienischen Verteidigungsministeriums teilte mit, dass ein nicht näher spezifiziertes Schiff auf dem Weg zum Ziel sei.
Etwa zehn Stunden nachdem alle Behörden mit einer GPS-Position des Bootes in Seenot alarmiert worden waren, hatte das Handelsschiff VOS TRITON, das der italienischen Niederlassung der niederländischen Reederei VROON gehört, seinen Kurs nach Norden geändert und traf am Einsatzort ein.
Zu diesem Zeitpunkt konnte das Alarm Phone die Menschen an Bord nicht mehr erreichen, aber das Flugzeug Seabird von Sea-Watch war auf dem Weg zum Fall.
Um 13:24 MESZ entdeckte Seabird das Boot längsseits des Handelsschiffs VOS TRITON in Position N34°12′, E011°55′.
Seabird konnte beobachten, dass das blaue Holzboot mit einem weißen Streifen an der Seite mit ca. 170 Personen an Bord stark überfüllt war und die Menschen keine Schwimmwesten trugen. Einige von ihnen waren bereits ins Wasser gesprungen und hatten versucht, auf das Handelsschiff VOS TRITON zuzuschwimmen.
Die Besatzung der Seabird versuchte mehrfach die VOS TRINTON über UKW (Schiffsfunk) zu erreichen, doch das Handelsschiff antwortete weiterhin nicht:
Glücklicherweise schafften es die Leute im Wasser das Handelsschiff zu erreichen und konnten an Bord gelangen. Mehrere Menschen folgten, sodass es bis zu 8 Personen es auf einmal gelang, das Handelsschiff zu erreichen. Die Crew von Seabird kreiste fast 1,5 Stunden lang um die beiden Boote und beobachtete genau, wie die VOS TRITON versuchte, das Boot mit Geflüchteten mit einem Seil heranzuziehen.
Um 14.35 MESZ, mehr als eine Stunde nach ihrer Ankunft, gelang es der VOS TRITON schließlich, das Boot mit einem Seil heranzuziehen und die Menschen an Bord zu nehmen.
Um 14.45 Uhr MESZ erinnerte die Seabird-Besatzung die VOS TRITON an ihre Pflichten, aber wie bei allen anderen vorherigen Kommunikationsversuchen erhielt das Flugzeug keinerlei Antwort. Der gesamte Funkverkehr wurde auf Kanal 16 durchgeführt.
Für einige Zeit verließ die Seabird den Einsatzort und sichtete andere Boote in Seenot. Wenig später kehrte die Seabird wieder zur VOS TRITON zurück.
Um 17:40 MESZ bezeugte die Seabird-Besatzung ein Funkgespräch an die VOS TRITON, welches besagte, dass die „Zawiyah“ der sogenannte Libyschen Küstenwache auf dem Weg zum Einsatzort sei und in einer halben Stunde eintreffen würde.
Um 18:06 MESZ hörte die Seabird-Besatzung auf Kanal 16 die Besatzung der VOS TRITON, die der Farwah-Plattform mitteilte, dass die sogenannte Libysche Küstenwache auf ihrer Steuerbordseite eintreffen wird und dass „die gesamte Besatzung in ihren Räumen unter Quarantäne steht“.
Um 18:17 MESZ sah die Seabird-Besatzung das Schiff 656 “Zawiya” der sogenannten Libyschen Küstenwache längsseits der VOS TRITON.
Zu diesem Zeitpunkt konnte davon ausgegangen werden, dass die VOS TRITON eine Übergabe der Geretteten auf die sogenannte Libysche Küstenwache vorbereitete. Die Besatzung der Seabird versuchte noch zwei weitere Male, die VOS TRITON auf Kanal 16 zu erreichen, ohne dass sie Antwort erhielt. Es folgte ein weiterer Versuch, die VOS TRITON dazu zu bewegen, die Übergabe zu verweigern. Erneut keinerlei Reaktion. Die Seabird musste daraufhin den Einsatzort verlassen und auf Grund von Treibstoffmangel an Land zurückkehren.
Wir haben keine Einblicke in das, was anschließend geschah, aber wir wissen, dass die von der VOS TRITON geretteten Menschen der so genannten Libyschen Küstenwache übergeben, im Hafen von Tripolis ausgeschifft und nach der Ankunft inhaftiert wurden. Gegen den Willen der Überlebenden und gegen internationales Recht. Alle libyschen Gefangenenlager sind bekanntlich Orte des absoluten Grauens, und wir fürchten um das Wohlergehen der 170 Menschen, die ihr Leben riskiert haben, fast ertrunken und verdurstet sind, nur um illegal an den Ort zurückgebracht zu werden, von dem sie zu fliehen versuchten.
Wir fordern
- Alle Such- und Rettungsaktionen müssen unter der Annahme durchgeführt werden, dass Libyen ein unsicherer Ort und ein unsicheres Land ist, das systematische und vorsätzliche Gewalt gegen Menschen auf der Flucht und libysche Bürger:innen anwendet. Folglich dürfen Menschen auf keinen Fall nach Libyen zurückgebracht werden dürfen.
An die EU-Behörden
- Die Abschaffung aller politischen und juristischen Instrumente, die versuchen, diese inakzeptablen Vorgehensweisen zu legitimieren, und die nur zu Gewalt und Tod an der Grenze führen.
An private Akteur:innen, wie z.B. Handelsschiffe
- Sich an die Prinzipien und Pflichten des internationalen Seerechts zu halten und daher ohne Verzögerung zu retten und eine Ausschiffung an einem sicheren Ort – welcher nur Europa sein kann – zu gewährleisten.
- Keine Übergaben an die sogenannte Libysche Küstenwache und sich somit an illegale Rückführung in ein unsicheres Land und Menschenrechtsverletzungen mitschuldig machen
- Wirtschaftlichen Interessen nicht über Menschenrechte und Menschenleben zu stellen.