Am Dienstag, den 6. September 2022, während Familien von vermissten und verstorbenen Personen an den EU-Grenzen zu einer Protestaktion in Zarzis, Tunesien, zusammenkamen, sendete Vincent Cochetel, der Sonderbeauftragte des UNHCR für das westliche und zentrale Mittelmeer, einen Tweet:
„Wir trauern um die Verluste. Aber dieselben Mütter hatten kein Problem damit, ihre Kinder zu ermutigen oder zu finanzieren, sich auf diese gefährlichen Reisen zu begeben. Wie im Senegal könnte die symbolische Verfolgung von Eltern, die ihre Kinder in Gefahr bringen, einen ernsthaften Einstellungswandel in Bezug auf Todesfahrten auslösen.“
Trauernde Mütter, die zum Teil seit mehr als einem Jahrzehnt nach Antworten suchen, zu beschuldigen und sogar ihre Kriminalisierung durch „symbolische Strafverfolgung“ zu fordern, ist schlichtweg empörend. In dieser gemeinsamen Erklärung verurteilen wir die Worte von Herrn Cochetel auf das Schärfste. Herr Cochetel sendete seinen Tweet als Reaktion auf eine „CommemorAction“, eine große Versammlung in Zarzis, an der die Familien der Vermissten, lokale Fischer sowie Aktivist:innen aus Afrika und Europa teilnahmen. Während die schwer traumatisierten Mütter öffentlich Antworten forderten, beschuldigte Herr Cochetel sie, indem er sie für das Verschwinden ihrer Söhne verantwortlich machte.
Einige der Mütter und Schwestern der Vermissten haben Herrn Cochetel geantwortet:
Jalila Taamallah (Mutter): Es ist das Visa- und Grenzsystem, das Migrant:innen in Gefahr bringt, nicht ihre Mütter. Es ist die Schuld der Migrationspolitik, die den Tod von Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer verursacht. Deshalb werden wir weiterhin an Demonstrationen für Bewegungsfreiheit teilnehmen. Sie können unsere Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht unterdrücken.
Hajer Ayachi (Mutter): Es sollte eine Schande sein, Mütter und Schwestern, die ihre Angehörigen verloren haben, zu beschuldigen, für deren Tod verantwortlich zu sein. Wir kämpfen seit 2011 gegen Regierungen, um zu zeigen, dass es deren Migrationspolitik ist, die das Leben unserer Söhne gefährdet, nicht wir. Jedes Mal, wenn Behörden ihre Verantwortung leugnen, sterben unsere Söhne ein zweites Mal.
Gamra Chaieb (Mutter): Wir, die Mütter der Vermissten, halten es für eine große Schande, dass man uns die Verantwortung für den Tod unserer Söhne anlastet. Unsere Söhne sind Opfer und wir sind es auch, ohne dass die Regierungen und das Visasystem darauf eingehen. Sie sind die Verbrecher, sie haben unsere Söhne durch Elend zur Ausreise getrieben und dann haben sie uns im Stich gelassen. Mein Sohn ist gegangen, weil er an Krebs erkrankt ist. Er wollte gesund werden und für seine Familie und seine kleine Tochter überleben.
Samia Jabloun (Mutter): Ich glaube, dass dieser Mann krank ist, denn niemals drängt eine Mutter ihren Sohn zur Auswanderung. Er handelt nicht humanitär, er spürt unseren Schmerz nicht, die Politik der „Dritte-Welt-Länder“ ist verantwortlich und auch die Europäische Union, die den Reichtum dieser Länder ausbeutet und sie verarmt, deshalb sind junge Menschen arbeitslos; die Armut, die sie zur Auswanderung zwingt, um ihren Lebensstandard zu verbessern.
Awatef Daoudi (Mutter): Wenn unsere Kinder über das Meer fahren, dann nur, um ihren Familien etwas Gutes zu tun, denn in ihrem Land werden sie schlecht behandelt und schlecht bezahlt, und es herrscht ständige Segregation. Diejenigen, die Geld haben, haben die Macht und können tun und lassen, was sie wollen, auch wenn es um Visa geht. Das sind Geschäftsleute und Politiker, aber die meisten jungen Menschen haben keine Rechte, und deshalb stürzen sie sich ins Wasser. In beiden Fällen, entweder auf dem Meer oder in ihrem Land, sterben sie. Aber leider ist es eine Schande, dass unsere Regierung nicht für das Wohlergehen unserer jungen Menschen sorgt.
Nourhene Khenissi (Schwester): Bevor Sie die Mütter der Vermissten anprangern, wäre es besser gewesen, Sie hätten den tunesischen und den italienischen Staat kritisiert, vor allem die Europäische Union, denn sie ist die erste und letzte Ursache für all diese Tragödien. Und Sie sollten wissen, dass die Bewegungs- und Reisefreiheit ein Recht für jeden Menschen ist.
Besbes Sarra (Schwester): Es ist nicht wahr, was er über die Mütter der vermissten Migrant:innen geschrieben hat, es gibt keine Familien, die ihre Söhne ins Meer schicken, das Hölle und Gefahr verkörpert. Sie haben also nicht das Recht, über die Gefühle der Familie zu urteilen, denn die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn ist nicht nur ein Wort, sondern sie ist mehr als das. Man muss wissen, dass die Beziehung zwischen allen Familienmitgliedern vor allem intim ist, weil der Sohn für die Mutter den Vater ersetzt, für die Schwester stellt der Bruder den zweiten Vater und alle Stützen des Lebens dar, für den Vater stellt der Sohn die Person dar, die während seiner Abwesenheit die erste Verantwortung für die Familie trägt und für den Bruder ist er Hilfe und Kraft. Schließlich ist es wichtig zu wissen, dass das Fehlen eines Familienmitglieds die ganze Familie erschüttert.
Rania Abdeltif (Schwester): Eine Mutter wird ihren Sohn nicht in Gefahr bringen, im Gegenteil, eine Mutter möchte, dass ihr Sohn immer an ihrer Seite ist, aber die jungen Leute hatten keine Chance in ihrem Land, also beschlossen sie auszuwandern, um das Leben ihrer Familie zu verbessern. Mütter werden ihre Kinder nie im Stich lassen, sie kämpfen jetzt für ihre vermissten Kinder. Das Gefühl einer Mutter oder Schwester, ihren Sohn oder Bruder zu verlieren, ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl, das niemand verstehen kann, solange er es nicht selbst erlebt hat.
Anstatt die EU-Grenz- und Visaregelung zu verurteilen, anstatt die tödliche Migrationspolitik Europas anzuprangern, hat Herr Cochetel es vorgezogen, die Opfer zu beschuldigen und sie zu Täter:innen zu machen. Das ist unerträglich und wir sind verwundert: Wie kann eine solche Person in einer hochrangigen Beamtenposition des UNHCR bleiben?
Wir erkennen an, dass sich Herr Cochetel entschuldigt hat, und wir wissen auch zu schätzen, dass sich das UNHCR für die Äußerungen seines Sonderbeauftragten entschuldigt hat. Dennoch sind wir der Meinung, dass dies nicht ausreicht, zumal sich Herr Cochetel bereits in der Vergangenheit auf inakzeptable Weise geäußert hat. Wir fordern den UNHCR auf, Maßnahmen zu ergreifen und den Sonderbeauftragten zu entlassen oder den Rücktritt von Herrn Cochetel zu fordern.
Wichtig ist, dass wir der Meinung sind, dass die Probleme der UN-Organisation nicht durch die Entlassung eines Einzelnen gelöst werden. Das UNHCR als Ganzes weist tiefe institutionelle Mängel auf und hat die Menschen, die es zu schützen vorgibt, immer wieder im Stich gelassen. Das Verhalten des UNHCR gegenüber schutzbedürftigen Gruppen in Ländern wie Libyen und Tunesien und die verherrende Reaktion seiner Mitarbeiter:innen auf die dortigen Flüchtlingsproteste zeigen einige der vielen schwerwiegenden Unzulänglichkeiten dieser UN-Organisation.
09/09/2022