Das Versagen der europäischen Politik im Bezug auf Menschenrechte versuchen Eric und Philippa Kempson so gut es geht auszugleichen. Das Künstlerpaar lebt inzwischen seit fast 20 Jahren auf der griechischen Insel Lesbos. Sie haben mitverfolgt, wie die Insel vom Paradies zu einem Ort des Grauens wurde. Obwohl der Wintereinbruch kurz bevorsteht, müssen Geflüchtete im HotSpot Moria in provisorischen Unterkünften übernachten. Um die Menschen wenigstens mit dem Nötigsten auszustatten, haben Eric und Philippa „The Hope Project“ gegründet – aber die Untätigkeit der großen Hilfsorganisationen macht sie wütend.
Philippa, in einem Deiner letzten Facebook Posts schreibst Du über die Lage in Camp Moria: „Ich stehe hier und muss zusehen, wie ein Zug entgleist.“ Was wird auf der Insel am meisten gebraucht?
Philippa Kempson: Es fehlt an allem. Aber am meisten mangelt es an Unterkünften. Als Moria gebaut wurde, war es für 750 Menschen konzipiert. Dann wurde die Kapazität auf fast 2000 ausgebaut. Aber es sind jetzt schon über 6000 Menschen im Camp und es kommen ständig neue an. Auf dem Foto sieht man den „Willkommens“-Bereich von Moria, die meisten müssen draußen warten, weil es drinnen zu voll ist. Nicht zu vergessen: Da hat es auch noch geregnet.
Während des ganzen letzten Winters kamen viele Menschen aus Afrika. Aber das hat sich drastisch verändert: Jetzt sind 90 Prozent der Menschen aus Syrien. Sie saßen in der Türkei und haben auf die Zusammenführung mit ihren Familien in Deutschland gewartet. Aber sie haben gemerkt, dass sie belogen wurden. Der EU-Türkei-Deal sagt: Wenn du illegal kommst, hast du keine Chance auf eine legale Einreiseerlaubnis. Aber jetzt wissen sie, dass niemand legal umgesiedelt wurde, deshalb steigen sie wieder in die Boote.
Der Winter kommt: Letztes Jahr sind auf Lesbos Geflüchtete in Zelten erfroren. Die Unterkünfte waren nicht für den Winter geeignet. Was haben die Menschen dieses Jahr zu erwarten? Haben die Behörden aus ihren Fehlern gelernt?
Eric Kempson: Das UNHCR hat nur verlautbaren lassen, dass sie nicht für die Wintervorbereitungen zuständig sind.
Philippa: Es wird noch schlimmer als letztes Jahr. Die Behörden sagen, es ist nicht ihre Verantwortung, die Lager für den Winter vorzubereiten. Letztes Jahr um diese Zeit waren ca. 3000 Menschen auf der Insel. Die Zahl schnellte hoch auf 6000 im Januar diesen Jahres. Jetzt ist die stressigste Zeit was Ankünfte angeht. Wir haben bereits mehr als 8000 Geflüchtete auf Lesbos. Gerade gestern sind wieder Boote gelandet, ich habe den Überblick verloren wie viele.
Anfang Oktober hat eine Gruppe ziviler Organisationen, unter anderem Sea-Watch, die Kampagne #OpenTheIslands gestartet. Wir haben die griechische Regierung dazu aufgefordert, die HotSpots zu schließen und die Menschen ans Festland zu bringen. Gibt es eine Reaktion der Behörden?
Philippa: Es ist eine Katastrophe! In den letzten Wochen haben sie 350 Personen umgesiedelt – aber in nur drei Tagen hatten wir noch mehr Ankünfte. Nachdem im Januar in Moria Menschen gestorben sind, gerieten UNHCR und die Behörden in Panik und haben die Hälfte der Menschen ans Festland gebracht. Das schien der einzige Plan zu sein, die Lager wurden nicht verbessert. Und in Moria sehen wir noch immer Geflüchtete ohne Decken, die ohne jeden Schutz auf dem Boden schlafen.
Eric: Als es die Todesfälle gab, hatten die Offiziellen im Januar ein Meeting zum Thema Überwinterung einberufen. Und nun sagt das UNHCR, es sei nicht involviert gewesen. Das UNHCR ist dafür da, Geflüchtete zu versorgen. Wie können sie denn sagen, sie wären für die Wintervorbereitungen nicht zuständig? Sie nehmen die Spenden und all das Geld der Regierung. Und alles, was sie tun, ist, Leute herumzukommandieren und sich wichtigtun. Das ist, was ich in den letzten drei Jahren gesehen habe.
Was könnte die Situation der Geflüchteten verbessern, die jetzt dort ankommen?
Eric: Was die Situation wirklich verbessern könnte, wäre, wenn die Hilfsagenturen tatsächlich anfangen würden zu arbeiten und das Geld für die Menschen einzusetzen statt es selbst auszugeben. Es gibt ein positives Beispiel:Ein Projekt, das von Geflüchteten zusammen mit der Organisation „One Happy Family“ betrieben wird. Sie besitzen ein Haus, eine Bibliothek, eine Schule und sie haben einen Fitnessstudio zum Workout aufgebaut. Sie arbeiten mit einem großen Herz und ohne Geld. Dann gibt es die Hilfsagenturen, die riesige Finanzzuschüsse aus Europa empfangen, und die Gelder verschwinden einfach. Warum können sie für das ganze Geld nicht wenigstens irgendetwas auf die Beine stellen wie „One Happy Family“? Ich sehe Geflüchtete leiden, weil ihnen in Moria keine Kleidung zur Verfügung gestellt wird.
Der UNHCR stattet die Menschen nicht einmal mit dem Nötigsten aus?
Eric: Ich könnte von so vielen Fällen berichten! Letzten Winter hatten wir hier Menschen, die in Flipflops und kurzen Hosen herumliefen. Dann versuchst du, mit dem Roten Kreuz und dem UNHCR zu sprechen. Sie antworten: „Die wollen keine Kleidung“. Und du denkst, wie kann es denn sein, dass sie keine Kleidung wollen? Es ist draußen -5°C, es ist schweinekalt! Wenn ich ihnen Kleidung anbiete, reißen sie sie mir aus den Händen. Was ist die Realität?
Philippa: Eine Frau kam im Juli barfuß an. Sie hat ihre Schuhe unterwegs verloren. In Moria gibt es nur Schotterwege, also ist sie zum Schalter von Eurorelief gegangen, um nach Schuhen zu fragen. Als Antwort gaben sie ihr ein Stück Papier, auf dem stand, ihr Termin sei am 19. August und sie sollte ihre medizinischen Dokumente mitbringen. Warum muss jemand einen Arztbericht zeigen, um ein paar Schuhe zu bekommen? Das soll eine Hilfsorganisation sein? Warum wollen sie Zugriff auf deine persönlichen Daten, um Kleidung auszugeben?
Eric: Wir haben ihr ein Paar Schuhe gegeben, aber das ist nicht der Punkt! Im Winter mussten Menschen einen Monat warten, um eine Decke zu bekommen. Das UNHCR und das Rote Kreuz handeln absichtlich so. Sie missbrauchen diese Menschen im Camp, um andere davor abzuschrecken, in ein Boot zu steigen.
Philippa: Sie sind Verbrecher! Niemand untersucht ihre Machenschaften. Niemand deckt ihre Verbrechen auf! Ich meine, wer verfolgt, wohin die EU-Gelder genau fließen, die für die sogenannte Flüchtlingskrise ausgegeben werden?
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Seitdem das EU-Türkei-Abkommen in Kraft getreten ist, wurde der Zugang zu den Hotspots für Journalist*innen und NGOs beschränkt. Was haben die Behörden in diesen Lagern zu verbergen?
Eric: Sie können nichts verstecken, weil uns die Geflüchteten Bilder schicken. Bilder von den sanitären Einrichtungen – es herrscht regelmäßig Wassermangel im Camp. Keine Hygiene. Sie schicken uns Videos von Menschen, die sich erhängen. Es war ein Mann im Camp, der viermal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Beim fünften Mal hat er es geschafft. Du hast all diese Hilfsagenturen im Camp und nicht eine einzige zeigte sich nach seinem ersten Selbstmordversuch alarmiert. Nach dem ersten Mal hätten sie ihm psychologische Unterstützung anbieten sollen oder ihn woanders unterbringen müssen, zum Beispiel in einem Krankenhaus. Was macht denn ihre Belegschaft? Rumsitzen, Kaffee und Ouzo trinken? Sie kümmern sich nicht darum, was die Geflüchteten machen. Jedes Mal, wenn jemand nach Hilfe fragt, sagen sie: „Geh weg.“
Philippa: Die einzigen Psychologen auf der Insel sind von Ärzte ohne Grenzen (MSF) und sie nehmen keine neuen Patienten an, weil sie die nicht behandeln können. Im Januar sagte der griechische Migrationsminister im Fernsehen: „Niemand wohnt in Zelten“. Das hat gestimmt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen nicht einmal Zelte. Sie mussten draußen auf dem Boden schlafen!
Interview: Theresa Leisgang & Marlene Resch
Fotos: Roman Kutzowitz (1), Philippa Kempson (2)
Mehr Info
Besucht „The Hope Project“ auf Facebook , wenn ihr über die aktuellen Entwicklungen auf Lesbos informiert bleiben wollt. Unser Video zeigt die Arbeit der Kempsons im Norden der Insel: https://www.youtube.com/watch?v=WTDipMVlLJk
In unserem Sea-Watchblog #MonitoringMoria, haben wir die Missstände in Moria dokumentiert. Die Fälle reichen von fehlender Hygiene bis zu Repression derjenigen Insassen, die ihr Recht auf angemessenes Wohnen einfordern wollen:
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