Die Bedingungen für Menschen auf der Flucht in Libyen sind untragbar. Schwerste Menschenrechtsverletzungen werden seit Jahren sowohl von zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsorganisationen, von zwischenstaatlichen Organisationen als auch von flüchtenden Menschen selbst gründlich dokumentiert und nachgewiesen.
Seit dem 02. Oktober 2021, nachdem libysche Polizei- und Militär-Einheiten eine großflächige Razzia durchgeführt und tausende Menschen willkürlich verhaftet und in Internierungslager gebracht haben, protestieren Geflüchtete vor dem UNHCR-Gebäude in Tripolis. Die Aufgabe des UN-Flüchtlingshochkommissariats ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die Rechte von Menschen auf der Flucht weltweit eingehalten werden. In Libyen zeigt sich deutlich, dass es dazu nicht in der Lage ist. Die Protestierenden fordern unter anderem ihre Evakuierung in ein sicheres Land, wo ihre Rechte geschützt und respektiert werden. Außerdem das Ende der Finanzierung der sogenannten Libyschen Küstenwache, die Flüchtende auf See abfängt und völkerrechtswidrig nach Libyen zurückführt. Hier könnt ihr euch über den selbstorganisierten Protest informieren und nach Möglichkeit finanziell unterstützen.
Während ich diesen Text schreibe, ist Dezember. Die Temperaturen in Europa sinken. Es ist kalt, windig und regnerisch. Auch das Wetter auf dem Mittelmeer verschlechtert sich. Der hinter uns liegende Monat November verdeutlicht wieder einmal, dass schlechteres Wetter Menschen nicht daran hindert, zu fliehen – denn sie haben meist keine Wahl. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass die Flucht über das Mittelmeer in den Wintermonaten weitaus gefährlicher ist als ohnehin schon. Verzögerte oder unterlassene Hilfeleistung staatlicher Akteure führt dazu, dass Menschen immer wieder für viele Stunden – teils mehrere Tage – auf See allein gelassen werden. Kälte, Regen und höherer Wellengang setzen die Menschen zusätzlichen Gefahren aus. Seeuntaugliche Boote halten den Wellen nicht stand, Menschen droht akute Unterkühlung.
Die Fluchtbewegung über das Mittelmeer setzt sich dennoch fort. Laut offiziellen Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden allein im November fast 3.500 Menschen von der sogenannten Libyschen Küstenwache völkerrechtswidrig abgefangen und zurück nach Libyen gedrängt. Der UNHCR vermeldet knapp 10.000 Ankünfte in Italien über den Seeweg. Im November letzten Jahres lagen die Ankünfte bei 5.360, 2019 gar nur bei 1.233 Menschen.
Auch wir waren im November mit der Sea-Watch 4 im zentralen Mittelmeer operativ und konnten in insgesamt sieben Einsätzen 482 Personen aus Seenot retten. Nach zwei medizinischen Evakuierungen befanden sich noch 461 Personen an Bord, welche sich nur teils in geschützten Räumen aufhalten konnten.
Viele Menschen mussten dem Wetter ausgesetzt an Deck schlafen. Das Wetter hat sich derartig verschlechtert, dass starker Wellengang, Wind und Regen dazu führten, dass die Decks überschwemmt und ein Teil der Gäste nass wurden. Vier Menschen kollabierten und mussten im Bordkrankenhaus behandelt und stabilisiert werden.
All dies geschah, während wir uns bereits vor Sizilien in italienischen Territorialgewässern befanden und unseren Gästen ein sicherer Hafen verwehrt wurde. Wir durften vor dem Hafen von Augusta vor dem Unwetter Schutz suchen, aber die Menschen ausdrücklich nicht an Land bringen. Die Crew der Sea-Watch 4 sah sich deswegen dazu gezwungen, über Nacht den Notstand auszurufen.
Menschen unterbrechen ihre Flucht nicht aufgrund von schlechtem Wetter. Winter auf dem Mittelmeer führt lediglich dazu, dass die Flucht gefährlicher wird, als sie ohnehin schon ist. Wir brauchen sichere und legale Einreisewege. Kein Mensch sollte sich auf die gefährliche Überfahrt über das zentrale Mittelmeer begeben müssen – weder im Sommer noch im Winter!