Die Crew an Bord, aber auch an Land wurde bestmöglich vorbereitet.
Ingos Aussage „Wir werden in Situationen kommen, von denen wir uns wünschten, es würde sie nicht geben“ noch weit vor dem ersten Einsatz, prägt nun jede Crew-Einweisung.
Ja, wir mussten damit rechnen, es war jedem Einzelnen bewusst. Gestern war es so weit. Mir schnürt es den Hals zu. Vor Traurigkeit, vor Respekt, vor tiefer Ankerkennung all jenen gegenüber, die sich für Geflüchtete – egal, an welcher Position einer langen Hilfskette – einsetzen. Aber auch vor Wut. Es müssen endlich legale Einreisewege geschaffen werden, um die Situation auf dem Mittelmeer dauerhaft zu lösen.
Die Crew der MS Sea-Watch hat gestern, am 27.08., an nur einem Tag über 500 Menschen von fünf Schlauchbooten gerettet. Auf den Booten gab es mehrere, teils schwer verletzte Personen. 2 Personen, die ihre Flucht nicht überlebt haben, waren tot, bevor wir eingetroffen waren.
Es ist keine Situation, die uns überraschen konnte, aber wir müssen es aushalten können und das ist für jede/n von uns unterschiedlich. Unsere Crew, die direkt beteiligt gewesen ist, hat etwas ganz Großes geleistet – äußerlich und innerlich. Denn jede/r agierte in unterschiedlicher Empfindung zu dem, was vor den eigenen Augen passiert.
Unsere Leute haben 16 Stunden Höchstleistung abgegeben, sind an ihre Grenzen gegangen, unsere Leute in Lampedusa haben es verstanden, trotz der widrigen Umstände der Kommunikation, alles im Griff zu haben und das Team zu Hause immer informiert zu halten.
Der Großeinsatz am 27.08.2015
- 10:30 Uhr: Anruf per Iridium von André (Skipper Törn 5) bei Sandra, Einsatz!
Schlechte Kommunikationsverbindung. Die Mannschaft hat drei Schlauchboote gesichtet und MRCC Rome informiert. Erste Zählungen und Angaben, auf zwei Booten befinden sich 230 Personen, das dritte wird gerade durchgezählt. Rettungswesten werden ausgegeben. Zwei Rettungsinseln, eine 25er und eine 65er ausgebracht, Frauen und Kinder darauf gesichert.
Rückmeldung von der Guardia Costiera – sie treffen in etwa 5 bis 6 Stunden ein.
Haben zwei weitere Schlauchboote gesichtet, das RIB fährt raus.
- 12:30 Uhr: Die drei Boote liegen weiterhin bei der “Sea-Watch“.
Das vierte Boot konnte an einem Frachter (Nina S) befestigt werden. Darin: mehrere Verletzte und – zwei Tote. Das medizinische Team (Markus, Sascha und Nanni) sind dort. Eine weitere 25er Insel muss raus – narkotisierter, verletzter Mann wird darin gelagert. Das 5. Boot wird gerade vom RIB zur “Sea-Watch“ gebracht.
Die Teams an Land telefonieren, schreiben untereinander, Anspannung, Sorge, Stolz. Camp-Leiterin Sandra steht in permanenter Verbindung mit der Guardia Costiera, die sind mit drei Schiffen zur „Sea-Watch“ unterwegs.
- 16:50 Uhr: Das Schiff empfängt wieder unsere Iridium-Nachrichten…
…und sie haben direkten Funkkontakt mit der CP 906 von der Guardia Costiera, die in etwa einer Stunde da ist. Laut Markus ist der Schwerverletzte inzwischen stabil. Der eingetroffene Frachter Mina F hat die Insassen aus Boot 5 mitgenommen. Die beiden Toten übernimmt später die Costiera. Aktuell sind etwa 450 Personen bei der „Sea-Watch“. Das Trinkwasser ist restlos aufgebraucht. Die Crew hat alles unter Kontrolle.
Sie wissen nun, dass die Costiera bald kommt, das motiviert, das stärkt.
- 17:40 Uhr: Die CP 906 beginnt die Bergung.
- 23:00 Uhr: endlich die Info: „… duschen, essen und dann los“.
Die „Sea-Watch“ musste alle an Bord verbliebenen Rettungsmittel (Schwimmwesten und Rettungsinseln) einsetzen, die Trinkwasserreserven wurden restlos aufgebraucht. Die „Sea-Watch“ musste daher ihren Einsatz vor Ort abbrechen, um auf Lampedusa neue Rettungsmittel aufzunehmen.
Wir wünschen der Crew Gute Heimfahrt! Sie wird gegen Mitternacht auf Lampedusa eintreffen.
Wir haben ein Team von Spezialisten des SBE (Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen e. V.) an unserer Seite, die nicht nur zuverlässig vor Ort auf Lampedusa sind, wenn wir zu unseren Einsätzen fahren, sondern auch für uns da sind, wenn wir mit unvergesslichen, schwer zu verarbeitenden Erlebnissen von unserer individuellen Mission nach Lampedusa zurückkehren und darüber hinaus uns allen an den Heimatorten zur Bewältigung des Erlebten zur Seite stehen.
Was für ein Geschenk!
Impressionen Törn 5 der Sea-Watch