Geschäftsführer Axel Grafmanns war für zwei Wochen mit auf Mission im zentralen Mittelmeer. Einige Bilder wird er sein Leben lang nicht mehr vergessen…
31. Mai 2017
Nach einem Jahr als Geschäftsführer von Sea-Watch e.V. gehe ich jetzt selbst auf Mission. Am Freitag starten wir Richtung 24 Meilenzone vor der libyschen Küste, um Menschenleben zu retten. Es ist krass, den Perspektivwechsel zu erleben: Das, was ich bisher aus der Ferne organisiert habe jetzt live zu erleben.
Seltsames Gefühl, Kribbeln im Bauch, nervös, auch etwas Angst, aufgeregt. Wir haben eine tolle Crew, der Kapitän kommt aus Südkorea, die Ärztin aus Australien, der Koch aus Italien, der Einsatzleiter aus Holland, Journalisten aus Dänemark.
Wir sind dort im Mittelmeer, weil ein ganzer Staatenbund versagt. Das Konzept des kalkulierten Sterbenlassens, um Europa aus der Verantwortung zu nehmen. Je mehr ich mitbekomme, umso empörter werde ich. Die Lage im Mittelmeer droht immer weiter zu eskalieren, die von der EU trainierte libysche Küstenwache hat erst kürzlich in der Gegend herumgeschossen.
Die Existenz von Sea-Watch ist und soll eine einzige Anklage sein, es ist aber auch gelebte Menschlichkeit in diesen düsteren Tagen: Sehr unvollkommen, fehlerhaft – aber es ist ein Anfang. Es gibt keine Freiheit ohne Liebe, das ist ein Lied, das mich begleiten wird.
Wir dürfen doch niemanden verlieren!
5. Juni 2017
Der Beginn war ein Sprung ins sprichwörtlich kalte Wasser. Wir konnten Malta rechtzeitig verlassen, der Wellengang hielt sich auch in Grenzen und wir waren gerade dabei das erste Krantraining zu absolvieren (der Kran hebt unsere kleineren RHIB Boote ins Wasser). Da kam der Telefonanruf von der Rettungsleitstelle in Rom, ein Schlauchboot mit ca. 120 Personen ist 30 Seemeilen von der Libyschen Küste entfernt in Seenot. Wir sollen dahinfahren.
Ich war auf dem Ausguck und habe das Boot nach 3 Stunden dann auch finden können. Das ist apokalyptisch, aus dem Nichts taucht auf einmal das vollgepackte Schlauchboot auf.
Wir mussten dann gleich aktiv werden, die 2 RHIBs in das Wasser, Schwimmwesten drauf, und los geht‘s. Es kam schnell zum Worst-Case-Szenario: Das Schlauchboot brach auseinander, und die Menschen rutschten ins Wasser. In der Zwischenzeit war die Vos Hestia der Hilfsorganisation „Save the Children“ da und unterstützte uns mit zwei weiteren RHIBs. Wir haben 12 Leute an Bord genommen, die fast ertrunken wären. Wir haben uns um sie gekümmert, Decken ausgegeben, nasse Klamotten ausgezogen, etwas zu trinken verteilt. Eine Frau kam später mit weit geöffneten Augen unter Schock an Bord, so sieht also Todesangst aus. Die haben wir gleich in unsere kleine medizinische Notfallstation gebracht.
Viele hatten Folterspuren an ihren Körpern. Manche zitterten noch vor Erschöpfung und Kälte. Und vier Menschen haben wir verloren, trotz Wiederbelebungsversuchen unserer Ärztin und der Ärzte von „Save the Children“. Tot, gestorben im Mittelmeer vor den Toren Europas.
Wir haben dann noch die 12 Personen von unserem Boot auf die Vos Hestia gebracht, die den Transfer nach Italien übernehmen. Zum Schluss flog noch ein Armee-Helikopter über uns, ein Militärschiff war wohl nur 3 km entfernt.
Nach dem Rettungseinsatz breitete sich eine seltsame Ruhe an Bord aus. Alles war noch nicht perfekt gewesen, das Kranen der RHIBs ins Wasser hat sehr lange gedauert, der Empfang der Gäste an Bord war etwas chaotisch. Aber das ist, was wir so auf die Schnelle hinkriegen mit einem Boot voller Freiwilliger. 125 Personen konnten wir retten, darunter fünf Babys. Einer unserer Gäste hat mir noch zugewunken, als wir sie zur Vos Hestia gebracht haben, und gelacht. Ich kann nur hoffen, dass sie eine Perspektive in Europa bekommen. Wer sowas auf sich nimmt, sollte nicht wieder in Not und Elend zurückgebracht werden.
Wir haben nochmal am Kran trainiert und ein medizinisches Notfalltraining zu Wiederbelebungsversuchen durchgeführt. Wir haben es immer wieder trainiert, um das nächste Mal noch besser und schneller reagieren zu können. Gegen Abend haben wir uns mit der Iuventa von „Jugend Rettet“ getroffen und uns abgesprochen. Es war ein schönes Gefühl, Freund*innen auf dem Meer zu treffen!
Am nächsten Tag war das Wetter schlechter, hoher Wellengang, alles wackelte. Aber auch wenn nichts zu tun ist, gibt es keine Langeweile an Bord. Der Wachdienst hat es auch in sich, rund um die Uhr, um Flüchtlingsboote zu sichten und eventuell die Libysche Küstenwache rechtzeitig zu entdecken, falls die uns ins Visier nehmen.
Trotz allem finde ich hier irgendwie meine Ruhe wieder, auch wenn ein Teil von Dir mitstirbt, wenn Du das hier erlebst…
Trauer und Wut
10. Juni 2017
Zwei Schlauchboote vor uns, unsere zwei RHIBs dazwischen, Menschen im Wasser, eine Leiche treibt dahin – und dazwischen schwimmt ein Delfin. An was ich wohl denken werde, wenn ich das nächste Mal einen Delfin sehe?
Heute war einer der krassesten Tage meines Lebens. Wir haben wieder zwei Menschen verloren, auch eine schwangere Frau, und ca. 220 gerettet. Wechselbad der Gefühle.. Ich weiß nicht wie es mir gehen wird, wenn ich zur Ruhe komme. Trauer und Wut…
Max, unser Rettungssanitäter, ist ins Wasser gesprungen und hat eine andere schwangere Frau herausgezogen. In einer normalen Welt würde er dafür einen verdammten, blöden Orden bekommen. In dieser Welt, wo nichts normal, menschlich und sinnvoll ist – na ja, was zählt schon ein Orden. Ich habe ihn fest gedrückt, ganz fest. Wir hatten 220 Leute an Bord, aus dem Südsudan, Nigeria, Eritrea. Der eine junge Mann aus dem Südsudan berichtete mir davon, dass die Kinder in seinem Dorf verbrannt worden sind und die Frauen umgebracht, damit sie sich nicht fortpflanzen können. Er schaute mir in die Augen und sagte: „Das ist doch Völkermord – oder wie nennst Du das?“
Wie soll ich ihm denn diese Frage beantworten? Wie soll ich eine Einschätzung zu einem Völkermord in einem Land geben, über das ich viel zu wenig weiß? Wie können wir uns anmaßen, über die Fluchtgründe von Menschen zu urteilen, deren Geschichte, Herkunft, Probleme wir gar nicht kennen? Vielleicht ist der Sudan auch ein sicheres Herkunftsland, genauso sicher wie Afghanistan?
Laut Schätzungen warten hunderttausende Menschen im Mittelmeerraum auf die Überfahrt. Ein paar Bekloppte kämpfen gegen das Schweigen, Sterben und die Gleichgültigkeit. Unsere Freund*innen von „Jugend Rettet“ haben uns heute ihr Medizinerteam rübergeschickt, und die wussten auch noch was zu tun ist, mit der schwangeren Frau, die Max gerettet hat, und die viel Salzwasser geschluckt hatte. Vier Stunden Kampf gegen den Tod: Diesmal haben wir gewonnen – danke „Jugend Rettet“! Aber auch „Sea Eye“ hat uns in letzter Sekunde unterstützt. Wir wussten nicht mehr wohin mit den Menschen, es war noch ein Schlauchboot da, es hörte einfach nicht auf.
Und dazwischen Seifenblasen
Seifenblasen, schöne bunte Seifenblasen. Stefanie, die australische Ärztin, hat ein Seifenblasenspiel gefunden und bubbelt mit einem kleinen Jungen im Chaos auf dem Schiff herum. 220 Menschen auf einem 30m langen 50 Jahre alten Boot.. Ich habe mich in Absprache mit Stefanie um die Kids gekümmert, Babymilch angerührt, Wasser verteilt, Menschen von A nach B gebracht, den RHIB Fahrer aufgebaut. Ich habe ihm gesagt, dass ich verdammt stolz auf ihn bin. Und das bin ich.
Die ganze Woche über fiel auf, dass Flugzeuge aus Luxemburg und Spanien die Search and Rescue Zone vor der Libyschen Küste abfliegen, teils mit Kameras bestückt. EUNAVFOR Med will verstärkt mit der Libyschen Küstenwache zusammenarbeiten, und dann aus der Luft „unterstützen“. Die Friedensnobelpreisträgerin EU organisiert Rückführungen in das Bürgerkriegsland Libyen immer professioneller. Auch heute hatten viele krasse Folterspuren, einer hat unseren Leuten seine angeschossenen Beine gezeigt.
Sterben in Manchester auf Grund von Terror 23 Menschen, so ist die Betroffenheit groß, berechtigterweise! Sterben im Mittelmeer Tausende, nimmt kaum noch jemand Notiz. Warum ist das so? Ein Leben ist nicht so viel wert wie ein anderes, weiße Haut zählt mehr als schwarze. Ist schönes ruhiges Wetter, freuen sich die Tourist*innen im Norden des Mittelmeers. Im Süden hingegen fahren bei gutem Wetter die Schlauchboote los, und Menschen sterben.
Die Stimmung im Team ist immer noch sehr gut. Wir haben den besten Koch auf dieser Erde. Er schimpft zwar immer mal, aber zaubert eine edle Mischung aus asiatischer und italienischer Kochtradition für uns. Wir sollen richtig essen, hat unsere Ärztin gesagt, damit wir bei Kräften bleiben. Wir kriegen die geretteten Menschen mit ach und krach 6 Tage durch, mit Powerriegeln usw.
Morgen steht uns wahrscheinlich ein neuer krasser Tag bevor. Ich habe etwas Angst davor, nochmal so einen Tag wie heute zu haben. Das Meer ist ruhig. Ich hoffe, wir verlieren kein Boot. Das ist das schlimmste, wenn Du helfen könntest, und es gelingt Dir nicht. Außenminister Sigmar Gabriel war ja vorgestern in Libyen, und hat noch mal kräftig nachgelegt, um alles noch schlimmer zu machen.
Heute Abend, nachdem wir dann das Schiff desinfiziert hatten (Kotze, Fäkalien, usw.) war es wieder so seltsam still in der Crew. Nicht unangenehm. Stille. Nicht-Verstehen.
Ich wünschte, ich würde nicht so viel fühlen
11. Juni 2017
Wir waren vom Samstag noch total müde. Der Sonntag begann um 6:30 Uhr morgens: „In 45 Minuten müsst ihr fertig sein“. Also ganz fix was essen. Dann an Deck und ich kam zum ersten Mal aufs RHIB. Wir sind zur Iuventa gefahren. Die waren bereits dabei, ein Schlauchboot mit ca. 150 Menschen an Bord abzubergen. Wir haben sofort mitgeholfen und die Menschen auf die Iuventa gebracht.
Mir ist eine Frau fast ertrunken, sie ist gestolpert, als sie aus dem Schlauchboot zu uns aufs RHIB kommen wollte, und ist kopfüber ins Wasser gefallen. Sie konnte nicht schwimmen und war total erschöpft, und ihr Kopf war sofort unter Wasser. Ich hatte sie schon am Arm, und habe mich nach hinten ins RHIB fallen lassen, um sie mit möglichst viel Kraft an die Wasseroberfläche zu holen. Stefanie kam mir dann zu Hilfe, und zu zweit haben wir die Frau ins RHIB gezogen. Glücklicherweise waren wir schnell genug und sie war noch am Leben. Dieser Moment beschäftigt mich heute noch, wenn ich das hier aufschreibe. Ich sehe immer wieder das Bild vor mir, wie sie ins Wasser fällt und ihr Kopf untertaucht. Ich hatte solche Angst, dass sie uns auch wieder stirbt, so wie die 2 Menschen am Tag zuvor.
Nach dem Vorfall haben sich einige der Menschen im Schlauchboot selbst besser organisiert. Zwei tolle Männer haben das RHIB festgehalten, wenn wir kamen, haben beruhigend gewirkt und die Menschen im Boot der Reihe nach an uns übergeben. Die beiden sind als letzte von Bord gegangen.
Wir sind zurück zur Sea-Watch 2 gefahren, und dabei sahen wir schon mehrere Schlauchboote und Holzboote um unser Schiff herum liegen. Im Kopf habe ich gezählt „160, 320, …“ und dachte: „Um Gottes Willen, wo kriegen wir die denn alle unter?!“ Zu diesem Zeitpunkt waren wir ganz alleine in diesem Teil des Einsatzgebietes, bis zum Horizont war außer uns und den Booten in Seenot nichts zu sehen. In letzter Sekunde tauchte dann ein Schiff der italienischen Küstenwache auf, die die verbleibenden Menschen an Bord nahmen. Wenn die nicht gekommen wären, weiß ich nicht, was passiert wäre…
Wir waren super erleichtert, dass alles gut gegangen war und dass dieser heftige Dauereinsatz zu Ende war. Und dann kam unser Einsatzleiter und sagte: „Wir haben ein neues Ziel!“ Es war ein Schlauchboot, das bereits am Sinken war. Gemeinsam mit der italienischen Küstenwache konnten wir alle Menschen retten und mussten dann noch mit dem Kran unsere RHIBs wieder an Bord hieven. Als wir dann endlich fertig waren, war es Mitternacht, und wir waren seit fast 18 Stunden im Einsatz.
Der Koch hat mich heute morgen gefragt, ob ich Hoffnung habe. Ich konnte die Frage nicht beantworten.
Sag Axel, hast Du noch Hoffnung?
12. Juni 2017
Als am nächsten Morgen mein Kajüten-Kumpel in die Kajüte kam, bin ich aufgesprungen und habe „Einsatz?“ gerufen. Der Einsatz kam aber dann erst mittags, als uns ein Schlauchboot gemeldet wurde. Die Menschen im Boot waren seit 3 Tagen unterwegs, hatten schon lange keinen Sprit mehr und waren ziellos auf dem Mittemeer umhergetrieben. Sie hatten kaum noch an eine Rettung geglaubt, 10 von ihnen sollen in den Stunden vor der Rettung aus Verzweiflung über Bord gesprungen sein, weil sie es nicht mehr ertrugen. Als wir sie fanden, waren sie völlig dehydriert und geschwächt und haben fürchterlich gestunken.
Als sie zu uns an Bord kamen, küssten einige von ihnen das Deck, ein Priester hat unsere Brücke gesegnet. Es waren unglaublich nette Menschen, sie haben gelacht, getanzt und gesungen und waren auch in ihrem Elend sehr rücksichtsvoll miteinander und sehr diszipliniert in der Enge an Bord. Wir haben Wasser und Notrationen ausgegeben und dann auch Reis für sie gekocht. Einer von ihnen lag bei uns in der Krankenstation. Er war in Libyen gefoltert worden und konnte nicht mehr laufen. Als es Nacht und langsam kalt wurde, gaben wir unseren Gästen Decken, denn viele von ihnen hatten nur zerfetzte Kleidung oder nur noch ihre Unterwäsche am Leib. Sie haben sich an Deck schlafen gelegt.
Mitten in der Nacht kamen dann zwei Schiffe der italienischen Küstenwache und haben die Menschen übernommen, um sie nach Italien zu bringen. Es war für uns fürchterlich mit anzusehen, wie die Küstenwache mit den geretteten Menschen umging: Sie fassten sie grob an, als sie sie an Bord holten, traten sie, schrien sie an, schubsten sie und verlangten, dass sie trotz Kälte die Decken zurücklassen. Nico und ich standen an der Reling und konnten ihnen nur noch „Safe journey, my friend,“ auf die nächste Etappe ihres Weges mitgeben.
15. Juni 2017
Seit gestern sind wir wieder zurück in Malta. Heute wurde das Schiff geschrubbt und an die nächste Crew übergeben, die sich morgen auf den Weg ins Einsatzgebiet macht. Wie ein Staffelstab, den wir übergeben, immer weiter – so lange es nötig ist, um Menschenleben im Mittelmeer zu retten, an der tödlichen Außengrenze Europas.
Ich habe jetzt auch eine Antwort auf die Frage nach Hoffnung: Wer das Licht bringt, sieht um sich herum die Dunkelheit umso deutlicher. Die Menschen, die alle zwei Wochen aufs neue aufbrechen, um Menschenleben zu retten, bringen die Hoffnung. Sie sind die einzige Hoffnung.
Fotos: Anya Franke
Ein Video zum Rettungseinsatz an der tödlichsten Grenze der Welt gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=8NZQHqWJvyQ