Lisa Hoffmann ist Aktivistin bei Sea-Watch und dokumentiert mit ihrer Kamera die Arbeit der Seenotrettungsorganisation. Sie war Augenzeugin der Situation vom 06. November 2017. Damals starben fünfzig Menschen, als die so genannte Libysche Küstenwache (LYCG) verantwortungslos eine Rettungsmission mit ihrem Fehlverhalten torpedierte. Wir sprachen mit ihr wie sie den Vorfall erlebte, ob sie Angst hat und wie sie mit den schwierigigen Erlebnissen umgeht.
Unter dem Toten befand sich auch ein kleines Kind. Wie gehst du mit dieser Tragödie um, wie steckst du das weg?
Natürlich stecke ich das nicht einfach so weg. Das sind Bilder, die prägen einen, die brennen sich ein. Es sind die Geräusche, die Hilfeschreie der Menschen, die in den Ohren noch lange über das eigentliche Ereignis hinaus nachklingen. Aber letztlich bleiben da auch die erleichterten Blicke der Geretteten in Erinnerung. All die Gespräche, die ich mit den Frauen und Männern an Bord geführt habe; die Kinder, die am Morgen mit einem Lächeln im Gesicht zu dir kommen. Das sind die Bilder, an denen man sich festhält. Das sind die Gründe, warum man immer wieder dort hinausfährt. Auch die Gespräche innerhalb der Crew, die gemeinsam das Geschehene erlebt haben, helfen, dieses zu begreifen.
Durch meine fotografisch-künstlerische Arbeit, habe ich die Chance, mit Hilfe der Aufnahmen und den Erzählungen, die Geschichte derer, die nicht selber reden können, an eine breitere Öffentlichkeit zu bringen. Es sind eben nicht nur Nummern und Zahlen, es sind Persönlichkeiten und individuelle Geschichten. Nur wenn genug Menschen erreicht werden, wird sich hoffentlich an der Situation dort unten was ändern. Diese Form der Arbeit hilft mir, damit umzugehen. Und immer wieder der Blick auf das Meer. Es scheint grotesk, ist es doch das Meer, in dem die Menschen ertrinken. Aber daran ist nicht das Meer schuld, sondern eine falsche Politik. Das Meer beruhigt und bietet mit seiner Weite, seiner Ruhe und seinem Tosen, einen Raum, in dem ich all das Erlebte verarbeiten kann.
Wie hast du den Verlauf der Situation wahrgenommen?
Um 6 Uhr morgens erreichte uns an diesem Tag der erste Rettungsnotruf. Das Rettungskoordinationszentrum, MRCC, in Rom gab immer wieder die Position des verunglückten Bootes durch und forderte uns auf, uns dorthin zu bewegen. Kurz vor Erreichen der Position, bemerkten wir die LYCG. Außerdem ein Aufklärungsflugzeug und ein französisches Kriegsschiff. Als wir die ersten Menschen im Wasser sahen, warfen wir von unseren schnellen Beibooten Rettungswesten ins Wasser und zogen die ersten an Bord. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Schiff der LYCG noch nicht direkt an dem Schlauchboot, von dem die Menschen aus in das Wasser sprangen. Die nächsten Minuten waren wir damit beschäftigt, Menschen aus dem Wasser zu ziehen. In dieser Situation begann die LYCG sich dem Schlauchboot zu nähern. Wann genau dies passiert ist, kann ich nicht sagen. Was ich aber sagen kann ist, dass die LYCG nicht ihre Schnellboote zu Wasser ließ, um Menschen zu bergen und in keiner Weise den Menschen half, die sich im Wasser in der Nähe ihres Schiffes befanden.
Hat schon etwas „in der Luft gelegen“, als ihr in der Situation angekommen seid?
Die ganze Stimmung war angespannt. Auf der Brücke hatte ich teilweise den Funkkontakt mit der LYCG mitbekommen. Die reagierte nicht auf Funksprüche auf Kanal 16, dem vorgeschriebenen Seefunk- und Notfallkanal. Als wir uns mit dem Schnellboot auf den Weg machten, bekamen wir von der SEA WATCH 3 bereits den Hinweis, dass sich Menschen im Wasser befanden. Es war klar, dass dies` keine normale Rettung werden würde. Wenn sich Menschen bereits im Wasser befinden, ist immer vom Schlimmsten auszugehen. Als wir dann die ersten Sachen im Wasser sahen, die ersten Köpfe, die zwischen den Wellen auftauchten und wieder verschwanden, stieg die Anspannung und Konzentration an Bord. Dass die LYCG überhaupt nicht reagierte, außer mit Drohgesten in unsere Richtung, hinterließ ein zusätzliches, nahezu ungläubiges Gefühl. Da befanden sich Menschen, die um ihr Leben schrien, im Wasser und die LYCG tat nichts.
Mitten in der Rettungsaktion preschte auf einmal das Boot der so genannten libyschen Küstenwache los und gefährdete damit Menschen. Hattest du in dem Moment Angst?
Es befanden sich zu dem Zeitpunkt zum Glück keine Menschen mehr im Wasser. Aber ich sah, wie ein Mann an der Reling des Bootes der LYCG hing. Die Soldaten der libyschen Küstenwache zerrten einerseits an ihm, damit er an Bord bleibt. Anderseits sah ich einen Fuß, der immer wieder auf seine Hand trat, bis sich diese löste und er einige Meter tiefer rutschte. Er hing noch an der Leiter, als das Schiff an Geschwindigkeit aufnahm. Die SEA WATCH 3 und unsere schnellen Beiboote (RHIBs) fuhren im Abstand hinter dem Schiff der LYCG her. Später erfuhr ich, dass sogar ein italienischer Helikopter versuchte, dass Schiff aufzuhalten – erfolglos. Wenige Minuten zuvor hatten wir einen Mann namens Kingsley aus dem Wasser geborgen. Er zeigte immer wieder auf das Schiff der LYCG und schrie etwas, dass ich nicht verstand. Später erfuhr ich von ihm, dass sich seine Frau noch an Bord befand. Angst hatte ich keine, dafür war der Adrenalinspiegel der vorhergegangenen Rettung zu hoch. Wir hatten zudem Menschen an Bord, um die wir uns kümmerten, die wir beruhigen mussten.
Die LYCG hat die auf ihrem Schiff geborgenen Menschen geschlagen. Ihr wurdet bedroht und mit Sachen beworfen – hattest du befürchtet, die Soldaten könnten euch gegenüber direkt handgreiflich werden oder sogar Schusswaffen einsetzen?
Von vorherigen Missionen, Erfahrungen Anderer und den Berichten weiterer Rettungsschiffe kannte ich das Verhalten der LYCG. Als wir zu dem Schlauchboot fuhren, lag der Fokus jedoch vollständig auf der Rettung der Menschen. Es waren viel zu viele Personen im Wasser, als dass es einen Moment gegeben hätte, in dem Zeit gewesen wäre, sich über das Verhalten der LYCG Gedanken zu machen. Da ich jedoch auch für die Dokumentation zuständig war, schwebte immer ein gewisses Gefühl der Unsicherheit mit, wie die LYCG auf die Kamera reagieren würde. Immer wieder kamen Rufe, die darauf abzielten, dass keine Fotos gemacht werden sollten. Das ging aber in den weiteren Bedrohungen uns gegenüber unter. Außerdem bewarfen sie uns mit Gegenständen.
Hast du Angst in Zukunft wieder auf das Meer zu fahren?
Ich liebe das Meer und das wird auch trotz diesen Erfahrungen so bleiben. Es ist nicht das Meer, das Schuld trägt an dem, was passiert. Es sind Menschen, Regime, politische Handlungen, die Menschen dazu zwingen, sich in nicht seetaugliche, überfüllte Boote auf das Meer zu begeben. Solange dies geschieht, werde auch ich mich weiter auf das Meer begeben, um zumindest zu verhindern, dass die Zahl der Toten weiter steigt – auch wenn sie das trotzdem nahezu täglich tut.