Ein Artikel von Theresa Leisgang:
Als Kapitänin ist Pia Klemp dazu verpflichtet, Menschen in Not zu retten. Weil sie das getan hat, laufen in Italien gegen sie Ermittlungen. Es ist ein politischer Prozess, der ganz Europa betrifft.
Über 6.000 Seemeilen hat Pia Klemp an Bord von Seenotrettungsschiffen zurückgelegt. Zuletzt steuerte sie die Sea-Watch 3 vor die libysche Küste, um Ausschau nach Schiffbrüchigen zu halten. Mit ihren Crews hat sie tausenden Menschen das Leben gerettet. Dafür drohen ihr jetzt 20 Jahre Haft, Straftatbestand: „Beihilfe zur illegalen Einreise“.
In Trapani hat die italienische Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen zehn Freiwillige eingeleitet, eine von ihnen ist Pia Klemp. Sie war es, die im August 2017 den ehemaligen Fischkutter IUVENTA der Organisation Jugend Rettet in den Hafen von Lampedusa steuerte, bevor das Schiff von den italienischen Behörden festgesetzt wurde. In der Untersuchungsakte heißt es, abgehörte Telefonate und Fotos von verdeckten Ermittlern lieferten Beweise dafür, dass die Seenotretter*innen mit Schleusernetzwerken aus Libyen zusammenarbeiteten.
Die Rechtsgrundlage für die Beschlagnahmung der IUVENTA sei lückenhaft, sagen Wissenschaftler. Ein Team der Goldsmiths University in London hat die Vorwürfe mit allen verfügbaren Daten abgeglichen und kam zum Schluss: Die Behauptungen sind falsch. Trotzdem muss sich Pia Klemp auf ein langes Verfahren einstellen, mit den anderen Betroffenen gründete sie das Kollektiv Solidarity at Sea. Ihre Anwälte rechnen mit politischem Gegenwind aus Italien, wo Innenminister Matteo Salvini dieses Jahr alle Häfen für Gerettete blockierte. Doch das schreckt die 35-Jährige nicht: „Ich habe nur meine Pflicht als Kapitän erfüllt. Auch wenn es der EU nicht passt: Ich mache mich strafbar, wenn ich Menschen ertrinken lasse“, sagt Klemp. Es gehe um etwas Größeres als ihren Freispruch vor Gericht. „Ich werde zwar auf der Anklagebank sitzen, aber das betrifft uns alle. Wir müssen uns fragen, ob in Europa Menschenrechte für jeden gelten, oder nur für ein paar Privilegierte.“ Dass gerade die Rechte von Flüchtenden nicht geschützt sind, hat Pia Klemp immer wieder beobachtet. Am schlimmsten war für sie der 6. November 2017.
Auf ihrem Radar sichtet die Kapitänin an jenem Montagmorgen ein Schlauchboot in internationalen Gewässern. Es ist völlig überfüllt, über einhundert Männer, Frauen und Kinder harren an Bord aus. Als eine Patrouille der sogenannten Libyschen Küstenwache heranprescht, bricht Panik aus. Von der Brücke der Sea-Watch 3 sieht Klemp, wie ein Mann in den Wellen wild mit den Armen um sich schlägt.
Die traurige Bilanz dieses Einsatzes: 45 Menschen werden zurück in libysche Lager gebracht, fünf Menschen ertrinken, darunter auch ein kleiner Junge, dessen Leiche Klemp im Kühlfach der Sea-Watch 3 nach Europa bringt. Überlebende des Vorfalls klagen inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Italien. Wegen ihres Abkommens mit Libyen sei die italienische Regierung mitverantwortlich für die Toten. Die Strategie der EU: Flüchtende sollen Europa nicht erreichen. Stattdessen sollen die Menschen zurück nach Libyen gebracht werden, auch wenn ihnen dort Folter, Haft und Vergewaltigungen drohen. „Wir stören da draußen, weil wir öffentlich machen, wie die von der EU eingespannten libyschen Milizen Menschenrechte mit Füßen treten“, sagt Klemp.
Was sie fühlt, wenn sie jetzt angeklagt wird, anstelle der EU für ihre Kooperation mit Libyen? „Ich wünschte, es würde mich fassungslos machen, doch da gab es leider kein Überraschungsmoment“, sagt Klemp. Europa sei auf der Flucht vor Menschenrechten. In Griechenland saß die syrische Rettungsschwimmerin Sarah Mardini in Untersuchungshaft. In England stehen 15 Menschen vor Gericht, die unrechtmäßige Abschiebungen verhindert haben. Klemp befürchtet, dass über die Kriminalisierung eines vergessen wird: Es gibt eine juristische und moralische Verantwortung, Leben zu retten. Deshalb richte sich der Gerichtsprozess nicht nur gegen die Freiwilligen, da ist sie sich sicher. Die ließen sich ohnehin nicht einschüchtern, sondern patrouillierten bereits jetzt wieder mit mehreren Schiffen. „Unser Verfahren ist ein Signal an alle Seeleute da draußen – wer rettet, bekommt Probleme“, sagt Klemp. Immer mehr Handelsschiffe schauten deshalb weg, immer weniger Kapitäne retten Schiffbrüchige.
„Es ist doch echt absurd, dass es heute eine gehörige Portion Zivilcourage braucht, sich an geltendes Recht zu halten“, sagt Klemp. „An Europas tödlicher Außengrenze sind Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Wir stehen dafür ein, dass sie wieder für alle gelten. Auf See – und wenn‘s sein muss auch vor Gericht.“