Melanies Spurensuche in Theorie und Praxis
Melanie Glodkiewicz, hochgeknöpfte Bluse, rot-geschminkte Lippen, wache Augen hinter der Hornbrille, klappt ihren Laptop auf und nippt einmal an ihrem schwarzen Kaffee. Sie hat sich für heute einen straffen Zeitplan gesteckt. „SW-Advocacy-Group-Project_V2“ ist der Arbeitstitel ihres Dokuments. Die Belgierin bereitet keineswegs eine Lobby-Strategie für ein großes Unternehmen vor. Sie ist seit einem halben Jahr Praktikantin der Menschenrechtsorganisation „Human Rights at Sea“, einen Teil des Praxissemesters absolviert sie bei Sea-Watch. Schon lange hat sich die 22-Jährige keinen Ausflug mehr in ein Café im Prenzlauer Berg gegönnt. Wie fast alle anderen Aktivist*innen arbeitet sie ehrenamtlich für die Seenotrettungsorganisation.
Die Vorlesungen über Humanitäre Hilfe an ihrer belgischen Hochschule waren Melanie bald nicht mehr anspruchsvoll genug. „Mir hat bei all der Theorie der Link zur Situation da draußen gefehlt“, erklärt die Masterstudentin. Es wird daher die wichtigste Zeit ihres Praxissemesters, selbst „da draußen“ auf dem Meer zu sein. Im Oktober sticht sie mit der Sea-Watch 2 von Malta aus für eine Rettungsmission in See. Kein Crewmitglied weiß zu diesem Zeitpunkt, wie unberechenbar die Lage ist. Die Nacht des 21. Oktober 2016 wird Melanie nie vergessen: Uniformierte der selbsternannten Libyschen Küstenwache unterbrechen gewaltsam den Rettungseinsatz, woraufhin mehrere Menschen direkt vor ihren Augen ertrinken.
Wieder im sicheren Hafen erzählt Melanie dem Magazin Vice vom schrecklichsten Moment ihres Lebens: „Überall waren Menschen, die verzweifelt versuchten, ihren Kopf über Wasser zu halten, und um Hilfe riefen.“ Den Schock hat sie überwunden, aber die Bilder haben sich ihr eingebrannt. Der Vorfall motiviert sie umso mehr, sich für eine menschlichere Politik an Europas Grenzen zu engagieren.
„Das war echt eine wichtige Erfahrung für mich – ich habe verstanden, wie wichtig es ist, dass verschiedene NGOs in humanitären Krisen zusammenhalten“, sagt Melanie rückblickend. Seit einer Woche ist sie wieder an der Uni in Brüssel, wo sie ihre Masterarbeit so schnell wie möglich abschließen will. Sie wünscht sich, dass die Organisation auf ihre Strategien zu Advocacy, Lobbyarbeit und Kooperation aufbaut, „damit sich Sea-Watch jeden Tag mehr in eine unglaublichere und glaubwürdigere NGO entwickelt.“ Einen letzten Gruß auf Facebook hinterlässt sie den „Piraten“: „Ihr seid alle bei mir auf ein Belgisches Bier willkommen!“
„I have seen Sea-Watch develop into a more incredible organisation each day!“
Foto: © 2016 – Judith Büthe