Eine gemeinsame Erklärung und eine Fallstudie von Sea-Watch, ProActiva Open Arms, WatchTheMed Alarm Phone, Human Rights at Sea und CADUS · Foto: Symbolbild / Sea-Watch e.V.
Trägt die Türkische Küstenwache die Verantwortung für den Tod zweier Menschen auf See?
Sea-Watch, ProActiva/Open Arms, Human Rights at Sea, CADUS und das WatchTheMed Alarm Phone fordern die unabhängige Untersuchung eines Notfalles auf See mit Todesfolge, der sich am 19.03.2016 in der Ägäis ereignet hat.
Am 12. Mai 2016 wurde eine gemeinsame Erklärung der Sea-Watch, von ProActiva Open Arms, dem WatchTheMed Alarm Phone, Human Rights at Sea und CADUS an das Türkische Innenministerium und das Hauptquartier der Türkischen Küstenwache geschickt. Hintergrund für diesen Brief an die türkischen Behörden war ein Notfall auf See vom 19.03.2016, bei dem zwei von 27 Personen an Bord, ein junger Mann und ein 8-jähriges Kind, ins Wasser fielen und untergingen, während zivilen freiwilligen Rettungskräften, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, der Zutritt zur Türkischen Rettungszone verwehrt wurde.
Die Kernfragen – die im beigefügten Statement aufgeworfen werden – lauteten:
Hätte der Tod der beiden Menschen durch ein rechtzeitiges, koordiniertes Vorgehen verhindert werden können?
Warum untersagte die Türkische Küstenwache den zivilen Such- und Rettungsorganisationen den Zugang zum Unglücksort, obwohl diese die notwendige Rettungsaktion hätten unterstützen können?
Am 28. Mai, antworteten die Oberbefehlshaber der Türkischen Küstenwache und erklärten ihre Perspektive bezüglich des Vorfalls. Die zentrale Frage nach dem Grund für das Verbot für die zivilen Rettungskräfte die Rettungszone zu betreten, blieb darin allerdings unbeantwortet. Vielmehr wurde erklärt, dass die Türkische Küstenwache in den ersten 1,5 Stunden der Rettungsoperationen keinerlei Informationen über etwaige vermissten Personen erhalten habe. Die Teams der Sea-Watch und des WatchTheMed Alarm Phone können bezeugen, dass beide in ihren Telefonaten mit der Türkischen Küstenwache mehrfach auf die Tatsache hingewiesen hatten, dass zwei Menschen über Bord gegangen waren.
Aus Sicht aller fünf Organisationen, die die gemeinsame Erklärung unterzeichnet haben, bleibt es ein Skandal, dass der Zugang zum Unglücksort den zivilen Rettungskräften untersagt und die angebotene Hilfe abgelehnt wurde, sogar, als die Türkische Küstenwache bestätigt hatte, dass zwei Personen vermisst werden.
Alle fünf Organisationen fordern nun eine unabhängige Untersuchung, die den Zugang zu den relevanten Log-Büchern und zu allen existierenden dokumentierten Konversationen zu dem Vorfall umfasst.
Die Organisationen werden zu dieser Untersuchung alle ihnen verfügbaren Informationen beitragen.
Hintergrund
Am 19. März 2016 verließ eine Gruppe von Menschen die Türkische Küste, um über die Ägäis die griechische Insel Lesbos zu erreichen. Doch so weit kamen sie nicht. Noch nahe des Türkischen Festlandes, nahe dem kleinen Ort Küçükköy, gerieten sie in Seenot mit tödlichen Folgen.
Wasser drang in ihr Boot ein und sie suchten um sofortige Hilfe von den staatlichen Such- und Rettungsdiensten (SAR). Zwei der 27 Menschen, ein junger Mann und ein 8 Jahre altes Kind, fielen ins Wasser und gingen unter, während den in der Nähe befindlichen zivilen Rettungsdiensten der Zugang in die Türkische Rettungszone verweigert wurde. Die Leiche des Mannes wurde am 21. März 2016 geborgen, das tote Kind blieb mehrere Tage verschollen.
Sea-Watch, ProActiva und das WatchTheMed Alarm Phone wurden bei diesem Vorfall alarmiert. Sea-Watch und ProActiva waren bereit, mit ihren Such- und Rettungsschiffen an der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei zu intervenieren. Die Türkische Küstenwache befahl ihnen aber, das türkische Gewässer nicht zu betreten.
Hätten unter den beschriebenen Umständen – so die Argumentation – die zivilen Such- und Rettungsorganisationen die Erlaubnis zur notwendigen Unterstützung der Menschen in Seenot erhalten, hätte das Leben der zwei genannten Personen möglicherweise gerettet werden können.
Anstatt aber sämtliche verfügbaren Kräfte zur Rettung von Menschenleben zu nutzen, untersagte die Türkische Küstenwache den Zugang für kritische humanitäre Hilfe, und der Verlust von Menschenleben ist der Preis dafür.
Die wesentliche Frage lautet: Warum?
Kernfragen
Hätten der Tod dieser beiden Menschen durch ein rechtzeitiges koordiniertes Vorgehen verhindert werden können?
Warum untersagte die Türkische Küstenwache den zivilen Such- und Rettungsorganisationen den Zugang zum Unglücksort, die die notwenige Rettungsaktion hätten unterstützen können?
Rekonstruktion des Falles
Am 19. März 2016, nur einige Minuten nach dem Ablegen, geriet das Boot in Seenot. Um 20 Uhr (CET) alarmierte ein Mann auf dem Boot die Türkische Küstenwache über den Notfall unter der Notrufnummer 157. Er teilte ihnen mit, dass zwei Menschen ins Wasser gefallen waren, doch während dieses Anrufs war er zunächst nicht in der Lage, die genaue GPS-Position ihres Bootes zu nennen. Das konnte er etwa 30 Minuten später nachholen.
Um 20.30 Uhr (CET) erfuhr das zivile Rettungsteam der Sea-Watch von dem Notfall nahe der Türkischen Küste und erhielt die GPS-Position. Zur gleichen Zeit verständigte eine Kontaktperson in der Türkei die Türkische Küstenwache per Telefon über den Notfall und gab die GPS-Position des Bootes an.
Auch das MSF-Team (Ärzte ohne Grenzen), das auf Lesbos stationiert war, bot der Türkischen Küstenwache wiederholt ihre Hilfe in der laufenden Rettungsoperation an. Auch ihnen wurde der Zutritt in die Türkische Rettungszone untersagt.
Um 20.47 Uhr (CET) wurde das WatchTheMed Alarm Phone von zwei Kontaktpersonen alarmiert und erfuhren von dem Boot in Seenot (http://watchthemed.net/index.php/reports/view/482). Als das Alarm Phone die Menschen auf dem Boot eine Minute später kontaktierte, waren nur Hintergrundgeräusche zu hören, jedoch keine Stimmen.
Eine Kontaktperson entschied sich, die Türkische Küstenwache zu verständigen.
Innerhalb der nächsten halben Stunde informierten verschiedene Rettungsteams, darunter das WatchTheMed Alarm Phone, die Türkische Küstenwache.
Um 21.00 Uhr (CET) verließ die Sea-Watch den Hafen von Tsonia auf Lesbos und war kurze Zeit später auf Stand-by Position an der Seegrenze, zusammen mit ProActiva, die dem Unglücksort am nächsten waren. Die Sea-Watch berichtet, dass auch der Türkische Frachter VEGA sich nahe dem Unglücksort aufhielt und bat daher dessen Crew, die Türkische Küstenwache zu verständigen, doch ohne Erfolg.
In den darauf folgenden, vielfachen Kontaktaufnahmen mit der Türkischen Küstenwache wurde ProActiva und Sea-Watch stets das Eingreifen untersagt. Der Türkischen Küstenwache zufolge gab es keinen Notfall und auch keine Menschen, die über Bord gegangen waren.
Um 21.02 Uhr (CET) erhielt das Alarm Phone zwei WhatsApp-Sprachnachrichten über die Situation der Menschen auf dem Boot. Sie enthielten die Nachricht, dass zwei Menschen ins Wasser gefallen waren.
Um 21.03 Uhr (CET) bestätigte die Türkische Küstenwache dem Alarmphone, dass sie von dem Fall Kenntnis und ein Rettungsboot in Richtung der Unglücksstelle ausgesandt hätten.
Um 21.41 Uhr (CET), fast zwei volle Stunden nachdem die Türkische Küstenwache das erste Mal alarmiert worden war und fast eine ganze Stunde nachdem die Türkische Küstenwache die GPS-Position erhalten hatte, wurde das Alarm Phone benachrichtigt, dass die Türkische Küstenwache den Unglücksort erreicht hatte. Um 22.19 Uhr (CET) bestätigte die Türkische Küstenwache, dass noch zwei Menschen vermisst waren. Nach mehreren Telefonaten mit der Türkischen Küstenwache erfuhr das Alarm Phone am nächsten Morgen um 7.53 Uhr (CET), dass von den 25 Menschen zwei Personen nicht hatten gerettet werden können.
Die türkische Nachbereitung
Am 22. März 2016, um 8.50 Uhr (CET) bestätigte die Türkische Küstenwache gegenüber dem Alarm Phone, dass sie die Leiche von einem der beiden Vermissten geborgen und ihn hatten identifizieren können. Am gleichen Abend erhielt das Alarm Phone einen Anruf aus Deutschland, es war ein enger Freund des Mannes, dessen 8-jähriger Sohn ins Wasser gefallen war und der weiterhin vermisst blieb. Das Alarm Phone wandte sich wieder an die Türkische Küstenwache, ihr war es bislang nicht gelungen, die zweite Person zu finden. Die Küstenwache nannte den Namen des toten Mannes und das Alarm Phone informierte den Freund, der bestätigen konnte, dass es sich tatsächlich um einen der beiden Vermissten handelte.
Am 23. März schloss die Türkische Küstenwache den Fall ab.
Im Anschluss versuchte das Alarm Phone, den Fall zu rekonstruieren und kontaktierte dafür die anfänglichen Kontaktpersonen sowie einen Überlebenden des Unglücks und die zivilen Rettungskräfte, die in die Rettungsoperation involviert gewesen waren.
Schlüsselfragen, die eine Antwort erfordern
- Warum hat die Türkische Küstenwache die vielfachen Angebote für humanitäre Unterstützung von den professionellen zivilen Rettungskräften abgelehnt und stattdessen die Erlaubnis zum Betreten der Türkischen Rettungszone untersagt, obwohl sich diese – mit vollständiger Ausrüstung und professionell ausgebildet – in unmittelbarer Nähe des Unglücksortes aufhielten?
- Warum bestritt die Türkische Küstenwache anfangs, dass zwei Personen über Bord gegangen waren, obwohl ihre Rettungsschiffe selbst nicht vor Ort des Unglücks waren, und obwohl Überlebende, zwei Kontaktpersonen und auch das Alarm Phone ihnen mitgeteilt hatten, dass zwei Personen im Wasser vermisst wurden? (Indem sie die Situation so darstellen, dass niemand ins Wasser gefallen war, führte die Türkische Küstenwache die Sea-Watch und das ProActiva-Rettungsteam, in die Irre, dies hat Auswirkungen auf deren Pflicht zur Hilfeleistung unter Artikel 98 UNCLOS 1982.)
- Warum dauerte es mehr als eine Stunde, bis ein Rettungsschiff den angegebenen Ort erreichte, berücksichtigt man, dass neben der Türkischen Küstenwache auch Schiffe der Griechischen Küstenwache, der NATO und von Frontex sich dort aufhielten?
- Wo waren die türkischen und die griechischen Behörden, die NATO und die EU-Rettungskräfte um 20.35 Uhr (CET), als der erste Notruf vom Boot eintraf und die GPS-Daten erstmalig an die Behörden übermittelt wurden?
- Warum hielt ein Frachtschiff nicht an, um Menschen in Seenot zu helfen? Und – den Angaben der Überlebenden zufolge -warum wurde die Rettungsoperation von der Türkischen Küstenwache nicht sofort eingeleitet, als diese am Ort des Unglücks eintraf?
Zu fordernde Maßnahmen
- Wir fordern sofortige Antworten von den türkischen Behörden und staatlichen Institutionen auf die oben aufgeworfenen Fragen.
- Wir fordern eine staatliche Untersuchung über die offensichtlich unterlassene Hilfeleistung des Frachtschiffs, das angerufen wurde, da sich Menschen in Seenot in unmittelbarer Nähe dieses Frachters befanden.
- Wir prangern ausdrücklich das Versagen an, zivilen Rettungsorganisationen das Retten von Menschenleben zu verbieten. In einer solchen Situation muss die Pflicht zur Hilfeleistung stets oberste Priorität haben, um Leben zu retten! Wir sagen, sämtliche verfügbaren Rettungskräfte hätten sofort mobilisiert und koordiniert werden müssen!
Folgen der Untätigkeit
In diesem tragischen Fall verloren ein Mann und ein Kind auf der Suche nach Sicherheit und Freiheit in Europa ihr Leben, nur 15 km entfernt von der Türkischen Küste bei Ayvalik und nahe der Strecke, welche regelmäßig von den Fähren zwischen den Häfen von Ayvalik und Mytilene befahren wird.
Diese Toten hätten vermieden werden können, hätte es eine koordinierte humanitäre Rettungsmaßnahme von Türkischen Rettungsbehörden und den freiwilligen humanitären Organisationen, engagiert in professionellen Rettungsmaßnahmen, gegeben. Weiterhin ist dem Frachter unterlassene Hilfeleistung vorzuwerfen.
Die Toten sind Teil von Hunderten von Menschen, die Opfer des aufgerüsteten Europäischen Grenzregimes in der Ägäis geworden sind, das Flüchtlinge und Migranten zwingt, ihr Leben auf immer gefährlicheren Routen zur See aufs Spiel zu setzen. Dieses Sterben auf dem Meer wird nicht aufhören.
Es steht fest, dass auch in Zukunft die wachsende Bedeutung der Abschreckung von Flüchtlingen gegenüber der Seenotrettung, und der Schutz von Grenzen anstelle von Bewegungsfreiheit – als eine der Folgen des neuen EU-Türkei-Deals – zu weiteren unnötigen Toten führen wird.
Schlussendlich werden unsere Organisationen fortfahren, mit zivilen Rettungsschiffen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten direkt Flüchtlinge und MigrantInnen in Seenot zu erreichen und damit der Untätigkeit und offensichtlichen Straflosigkeit bei unterlassender Hilfeleistung zu begegnen.
Wir sprechen den Verwandten und FreundInnen der Verstorbenen unser aufrichtiges Beileid aus, und wir stehen weiterhin in Solidarität mit ihnen und mit all denen, denen sich mit dem Überqueren von Grenzen über das Meer die einzige Möglichkeit bietet, Sicherheit und Freiheit zu finden vor Krieg, dem Fehlen wirtschaftlicher Lebensgrundlagen oder vor Unterdrückung in ihren Heimatländern.