Jakob ist Tactical Coordinator bei Airborne. Wir haben mit ihm über die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer und einen besonders heftigen Zwischenfall am 25. März gesprochen.
Du hast die letzten Wochen auf Lampedusa verbracht. Von dort aus seid ihr fast täglich mit dem Flugzeug ins Einsatzgebiet aufgebrochen. Wie ist die Lage vor Ort?
Die letzten Wochen war viel los auf dem Mittelmeer. Allein in den letzten vier Wochen haben wir während unseren Aufklärungsflügen über 50 Seenotfälle entdeckt.
Oft blieben unsere Notrufe an die zuständigen Behörden unbeantwortet. 518 Menschen sind seit Jahresbeginn im zentralen Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst – darunter mindestens 46 Kinder.
Ein besonders heftiger Zwischenfall ereignete sich am 25. März. Ihr musstet aus der Luft bezeugen, wie ein Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache ein NGO-Schiff bedrohte und Schüsse abgab. Was genau ist da vorgefallen?
Es begann damit, dass wir aus der Luft ein überfülltes Schlauchboot in Sicht hatten. Zuvor hatte uns die zivile Notrufinitiative Watch the Med – Alarm Phone über den Seenotfall informiert. Bei unserer Ankunft vor Ort waren das Patrouillenboot „Zawiyah“ der sogenannten libyschen Küstenwache und das Rettungsschiff Ocean Viking der zivilen Seenotrettungsorganisation „SOS Mediterranée“ nur noch wenige Meilen entfernt. Sowohl die Ocean Viking als auch wir haben mehrfach versucht, mit dem Patrouillenboot der sogenannten Küstenwache in Kontakt zu treten, um die Rettung zu koordinieren. So ist es schließlich auch rechtlich vorgesehen: Bei einem Seenotfall soll umgehend eine Rettungsaktion eingeleitet werden.
Doch die sogenannte libysche Küstenwache antwortete nicht via Funk, sondern stattdessen mit brachialer Gewalt: Sie feuerte mehrmals Schüsse ab und leitete gefährliche Manöver ein. Um die eigene Schiffssicherheit nicht zu gefährden, musste die Ocean Viking – ein einsatzbereites Seenotrettungsschiff! – den Ort des Geschehens verlassen. Die Menschen auf dem Schlauchboot wurden indes von der Küstenwache aufgenommen und zurück nach Libyen verschleppt. Push-Backs wie dieser – also illegale Rückführungen von Menschen auf der Flucht – geschehen im Mittelmeer fast täglich. Letztes Jahr wurden über 56.000 Menschen rechtswidrig zurück nach Nordafrika verschleppt. Diese Praktik ist zutiefst rechtswidrig und gefährdet mutwillig Menschenleben! Lasst uns zudem nicht vergessen, dass die sogenannte libysche Küstenwache von der EU finanziert wird – das heißt, diese abscheulichen Taten geschehen im Namen von uns Europäer:innen!
Auch für jene, denen die Flucht über das Mittelmeer gelingt, ist die Tortur oft nicht zu Ende. Als Antwort auf die vielen Ankünfte im Süden Italiens hat die italienische Regierung letzte Woche den Notstand ausgerufen. Was sagst du dazu?
Ein Notstand wird in der Regel in Folge von Naturkatastrophen ausgerufen, wenn schnell interveniert werden muss. Unter anderem können dann nämlich Maßnahmen per Verordnung beschlossen werden, ohne den langwierigen Weg durch den parlamentarischen Prozess nehmen zu müssen. Damit wäre dann auch die Frage beantwortet, wie von der aktuellen italienischen Regierung das Thema Migration wahrgenommen wird und wie es kontrolliert werden soll.
Doch die humanitäre Krise im Mittelmeer ist keine Naturkatastrophe, sondern eine politische, von Menschenhand geschaffene Katastrophe. Einerseits ist die Ausrufung des Notstandes ein klarer Warn- und Hilferuf an die EU. Aber machen wir uns nichts vor: Der Notstand wird zweifelsohne auch weitere repressive Schritte der faschistischen Regierung legitimieren: Schnellere Abschiebungen, Kollektivausweisungen, Abbau des Asylrechts, Repressionen gegen zivile Seenotretter:innen.
Ihr fliegt von Lampedusa aus. Das Lager auf der Insel ist seit Monaten überfüllt. Alleine am Osterwochenende kamen über 2000 Menschen auf Lampedusa an. Was kannst du aus deiner Erfahrung über die Situation vor Ort berichten?
Wir selbst haben keinen Zutritt zum Erstaufnahmelager. Es befindet sich in der Mitte der Insel in einer Art Schlucht – gut abgeschirmt, sodass die Urlaubskulisse nicht beeinträchtigt wird. Die Menschen, die ohne europäischen Pass Lampedusa erreichen, werden nach ihrer Ankunft sofort in das Lager eingesperrt. Präsent wie eh und je ist zudem die Militarisierung der Insel. Vor allem bei Ankünften einer Vielzahl von Booten ist das ersichtlich.
Zur Zeit scheint sich die Insel auf die Tourismussaison vorzubereiten: Dutzende Boote, mit denen die Menschen auf der Insel angekommen sind, liegen an den Stränden. Dazwischen Rettungswesten und zurückgelassene Habseligkeiten. Diese werden nun weggeräumt. Bars und Restaurants sperren auf, um eine einladende Urlaubskulisse für Tourist:innen zu bieten, so wie überall an den nördlichen Küsten des Mittelmeers. Es ist ein bizarrer Ort.
Dieses Jahr gibt es schon 441 bestätigte Todesfälle im zentralen Mittelmeer allein – so viele wie seit 2017 nicht mehr. Laut Internationaler Organisation für Migration können die meisten Todesfälle auf verzögerte Rettungsaktionen oder unterlassene Hilfeleistung durch die zuständigen Rettungsleitstellen zurückgeführt werden. Von einem EU-finanzierten europäischen Seenotrettungsprogramm im Mittelmeer – dem einzigen Weg, das Sterben im Mittelmeer zu beenden – könnten wir kaum weiter entfernt sein.
… und deswegen ist unsere Luftaufklärungsmission so fundamental wichtig! Wir sind oft das einzige zivile Auge auf einer Fläche ungefähr doppelt so groß wie Bayern. Vieles, das wir über Schiffbrüche, Menschenrechtsverletzungen oder die Externalisierung der europäischen Außengrenzen wissen, wissen wir durch unsere Aufklärungsflüge. Auch von dem Angriff auf die Ocean Viking können wir nur berichten, weil wir dank unserer Präsenz vor Ort an jenem Tag die Videoaufnahmen haben. Deswegen: Solange die EU wie schon seit Jahren ihren Pflichten nicht nachkommt, werden wir weiter Rettungen aus der Luft koordinieren und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren.