Berlin, 6. Juni 2017
Offener Brief zu Seenotrettung im Mittelmeer
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
wir, die unterzeichnenden Nichtregierungsorganisationen, wenden uns heute mit der Bitte um konkrete Unterstützung an Sie.
Wir sind seit 2015 auf dem Mittelmeer aktiv, wo wir Menschen in Seenot vor dem Ertrinken retten. In dieser anhaltenden humanitären Krise vor den Toren Europas sterben jedes Jahr tausende Menschen. Trotz der lebensgefährlichen Überfahrt versuchen weiterhin Zehntausende, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, weil Kriege, gewaltsame Konflikte und existenzielle wirtschaftliche Not sie zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Hinzu kommt, dass viele Flüchtende und Migrant*innen in Libyen willkürlich inhaftiert, gefoltert, vergewaltigt und zur Arbeit gezwungen werden. Ihnen bleibt oft nur die Flucht über das Mittelmeer. Die Zustände für Schutzsuchende in den libyschen Internierungslagern sind entwürdigend. Die Menschen werden willkürlich unter unmenschlichen und unhygienischen Bedingungen eingesperrt. Oft gibt es nicht genug Nahrung und sauberes Wasser und keinen Zugang zu medizinscher Versorgung. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung.
Wir folgen humanitären Prinzipien bei unseren Rettungseinsätzen und wollen die Aufmerksamkeit auf das Leiden der Menschen lenken. Unsere praktische Arbeit ist ein Bekenntnis zu den Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen, die auch Deutschland ratifiziert hat.
Seit 2015 haben wir – in Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen – zehntausende Menschen gerettet. Wir setzen Rettungsschiffe ein, die von Sizilien und Malta aus operieren, sowie ein von Sea-Watch gechartertes Flugzeug, den “Moonbird“, das die Koordination effektiver macht und eine Gesamtübersicht über die Lage vor Ort ermöglicht. Immer arbeiten wir in Kooperation mit der Rettungsleitzentrale in Rom.
In zahlreichen Situationen kamen wir buchstäblich in letzter Sekunde, um Menschen aus überfüllten Booten oder schwimmend aus dem Meer zu retten. Dabei sehen und behandeln wir auch viele schwere medizinische Notfälle: Verletzungen durch Folter oder Misshandlung, akute Dehydrierung, Verätzungen durch das Gemisch von Salzwasser und Treibstoff in den Booten und Infektionskrankheiten durch eklatant schlechte Hygienebedingungen vor der Überfahrt.
Heute stehen wir einer beispiellosen Reihe unbegründeter Vorwürfe gegenüber: In Italien erheben Staatsanwälte die falsche und unbelegte Anschuldigung, wir arbeiteten vorsätzlich mit Schleppern zusammen. Diese Verleumdungen werden zunehmend von rechten Gruppierungen ausgenutzt. Der österreichische Außenminister verunglimpft unsere Arbeit als „NGO-Wahnsinn“. Aber auch hier in Deutschland werden manche unserer Mitarbeitenden zunehmend aggressiv angegriffen. Darüber hinaus stellen wir fest, dass die EU in ihrer Politik gegenüber den Flüchtenden auf dem Mittelmeer weiterhin auf Abschreckung setzt und ihre eigenen Schiffe immer weniger an Rettungseinsätzen teilnehmen.
Eine neue Entwicklung ist, dass die EU die libysche Küstenwache trainiert und sie aufrüsten will. Gleichzeitig versucht diese nun mit zunehmend aggressiven Methoden, Boote mit Flüchtenden, die schon internationale Gewässer erreicht haben, nach Libyen zurückzubringen. Bei mehreren Vorfällen dieser Art wurde das Leben und Wohlergehen von Flüchtenden und Rettern massiv gefährdet. Diese Vorfälle nehmen zu. Hier einige Beispiele:
- Am 21.10.2016 kam es bei einer nächtlichen Rettungsmission der „Sea-Watch 2“ durch unnötiges brutales Eingreifen der libyschen Küstenwache zum Kentern eines Flüchtlingsbootes. Die Küstenwache beteiligte sich nicht an der Rettung, mehr als 30 Menschen ertranken. Eine Erklärung dazu liegt bis heute nicht vor.
- Am 10.05.2017 kam es zu einer Beinahe-Kollision des NGO-Rettungsschiffs „Sea-Watch 2“ mit einem Schiff der Küstenwache, welches durch ein hochriskantes Manöver das Leben der Besatzung aufs Spiel setzte und sich in eklatantem Widerspruch zu seefahrerischen Regeln verhalten hat. Anschließend wurden unhaltbare Vorwürfe gegen Sea-Watch erhoben.
- Am 23.05.2017 wurden von einem Schiff der libyschen Küstenwache Schüsse abgefeuert – in unmittelbarer Nähe mehrerer in Seenot befindlicher Flüchtlingsboote und des Rettungsschiffs „Aquarius“ von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen. Flüchtende wurden massiv bedroht. In der dadurch entstandenen Panik sprangen mehr als 60 Menschen von den Booten. Wie durch ein Wunder kam niemand zu Schaden.
Diese Entwicklungen sind unerträglich und gefährden das Leben tausender Menschen. Als humanitäre Organisationen fordern wir Sie auf, Frau Bundeskanzlerin, die Situation im zentralen Mittelmeer öffentlich als humanitäre Krise anzuerkennen. Dadurch würde deutlich, dass die Helfenden in dieser Notsituation geschützt werden müssen. Wir fordern Sie zudem auf, sich öffentlich zum Verhalten der libyschen Küstenwache zu positionieren und deutlich zu machen, dass ihr gefährdendes Verhalten sich in eklatantem Widerspruch zum europäischen Wertekanon und zu einschlägigen Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen befindet. Jegliche direkte oder indirekte Unterstützung der libyschen Küstenwache durch europäische oder italienische Behörden trägt noch mehr zur Gefährdung von Menschenleben bei und sollte daher unterbleiben.
Darüber hinaus erwarten wir:
- von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, endlich ihrer Verantwortung nachzukommen, Menschen in Seenot zu retten! Als größter EU-Mitgliedsstaat trägt Deutschland Mitverantwortung nicht nur für die völlig inadäquate Reaktion auf die Leiden und den vielfachen Tod der Flüchtenden auf dem Mittelmeer, sondern auch für das gefährliche Vorgehen der von der EU ausgebildeten libyschen Küstenwache.
- dass endlich sichere und legale Wege für Flüchtende geschaffen werden, so dass niemand mehr gezwungen ist, sein bzw. ihr Leben in die Hände von Schleppern zu legen, um das Mittelmeer zu überqueren.
- eine klare Stellungnahme der Bundesregierung gegen die unhaltbaren Angriffe, denen wir ausgesetzt sind. Wir berichten umfänglich und transparent über unsere Arbeit und sind jederzeit bereit, Vorwürfe gegen uns zu diskutieren – solange sie auf nachprüfbaren Fakten beruhen.
- von den europäischen Staaten, insbesondere der Bundesregierung, jegliche Pläne zu verwerfen, die eine Rückführung von aus Seenot Geretteten nach Libyen vorsehen. Die Bedingungen in den Internierungslagern sowie die Willkür und mangelhafte Rechtssicherheit in Libyen würden die Menschen existenziell gefährden und machen jeden Versuch der Rückführung zu einer moralischen Bankrotterklärung.
Über ein direktes Gespräch zur weiteren Erörterung und Diskussion würden wir uns freuen. Für eine Terminvereinbarung steht Ihnen unsere Kollegin Frau Katharina Lange unter 030 – 700 130 181 oder katharina.lange@berlin.msf.org zur Verfügung.
Bis dahin verbleiben wir mit freundlichen Grüßen,
Timon Marszalek, Geschäftsführer SOS Méditerranée Deutschland e.V.
Dr. Frank Dörner, Vorstand Sea-Watch e.v.
Florian Westphal, Geschäftsführer Ärzte ohne Grenzen e.V.
PDF: Offener Brief Seenotrettung
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