In meinen Einsätzen auf der Sea-Watch 3 habe ich vieles erlebt. Ich habe Menschen sterben sehen, aber auch erfolgreichen Reanimierungen beigewohnt. Ich habe unter Tränen den leblosen Körper eines Kleinkindes in eine Tiefkühltruhe gebettet. Ich habe hunderte Kinder und Erwachsene lachen, singen, weinen, spielen und tanzen gesehen, die ohne dieses Rettungsschiff ihre Flucht über Europas tödlichste Grenze nicht überlebt hätten. Auf der Sea-Watch 3 habe ich Solidarität gelebt, mit dem Rauchen aufgehört, geküsst, geweint, geschrien und gelacht, mich verliebt, unfassbar viel gelernt, Freundschaften fürs Leben geschlossen, kiloweise selbstgemachte vegane Currywurst mit Pommes für die Crew produziert. Ich habe furchtbare Spuren von Folter und Gewalt an menschlichen Körpern gesehen, Menschen nach ihrer Rettung in Ohnmacht oder auf die Knie fallen sehen.
All dies ging mir durch den Kopf, als ich vor kurzem als letzter unserer Crew und mit Gänsehaut ein letztes Mal die Sea-Watch 3 über die Gangway verließ. Zuvor hatten wir in einer Werft in Gent, wo das Schiff dem Recycling zugeführt wird, in einer kleinen Zeremonie die Sea-Watch-Flagge vom Hauptmast eingeholt. Die Sea-Watch 3 ist über 50 Jahre alt und ihre Zertifikate laufen bald aus. Wegen des Zustandes des Schiffes und zunehmend strengerer Regulierungen von Seiten der italienischen Behörden wäre es nicht mehr wirtschaftlich gewesen, die anstehenden Werftarbeiten umzusetzen. Deswegen haben wir uns schweren Herzens dazu veranlasst gesehen, die Sea-Watch 3zu verschrotten. Was uns tröstet ist, dass wir mit der Sea-Watch 5 in den nächsten Monaten ein geeigneteres und – was den Dieselverbrauch anbelangt – auch deutlich sparsameres Rettungsschiff an den Start bringen werden. Dank hunderter engagierter Freiwilliger vor Ort in Flensburg werden die Werftarbeiten, um die Sea-Watch 5 auf ihre Einsätze im Mittelmeer vorzubereiten, schon bald abgeschlossen sein!
Nichtsdestotrotz: Die Sea-Watch 3 hat Beachtliches geleistet. In über fünf Einsatzjahren konnten mit ihr 6000 Menschenleben gerettet werden. Viele mehr hätten gerettet werden können, hätten europäische Staaten das Schiff nicht insgesamt über 29 Monate unrechtmäßig und politisch motiviert festgehalten.
Ich erinnere mich gut an einen Tag im Jahr 2016. Einer meiner ersten Einsätze damals noch als Einsatzbootfahrer. Zahlreiche Rettungen lagen hinter uns, aber immer noch waren mehrere überfüllte Schlauchboote in Sichtweite. Rund 1200 Menschen in Seenot, für die wir auf der kleinen Sea-Watch 2 weder genug Rettungswesten, noch genug zu Trinken, geschweige denn genug zu Essen hatten. Einige hundert Geflüchtete wurde von europäischen Kriegsschiffen aufgenommen und an Land gebracht. Mit dem Rest blieben wir alleine auf hoher See zurück. Als am Horizont die charakteristischen Masten des Rettungsschiffs von Ärzte ohne Grenzen auftauchten, wussten wir, dass all die Menschen auf den fragilen Schlauchbooten bald in Sicherheit sein werden. Im Sommer 2017 betrat ich schließlich zum ersten Mal genau dieses Schiff. Im Gepäck eine mitgebrachte Sea-Watch-Fahne, die wir an jenem Tag zum ersten Mal hissten. Übernommen von Ärzte ohne Grenzen, sollte das Schiff im November 2017 zum ersten Mal als Sea-Watch 3 in den Einsatz fahren.
Der erste meiner sechs Einsätze auf der Sea-Watch 3 war das schlimmste Ereignis meines Lebens. Bei einem Übergriff durch libysche Milizen während unserer Rettungsaktion ertrinken Menschen vor meinen Augen. Während der verzweifelten Versuche, so viele Menschen wie möglich zu retten, werden wir von der sogenannten Libyschen Küstenwache bedroht und attackiert. Überlebende werden von den Milizen drangsaliert und an Deck ihres Schiffes – ein Geschenk der italienischen Regierung – vor unseren Augen geschlagen und ausgepeitscht. Am Ende des Tages haben wir 59 traumatisierte Überlebende an Bord – und den Leichnam des zweijährigen Great in unserer Tiefkühltruhe. Auch viele andere Schutzsuchende mussten an diesem Tag die Begegnung mit Europas gewissenlosen Türstehern mit dem Leben bezahlen.
Zu erleben, was für Flüchtende auf dem Mittelmeer bittere Realität ist, macht fassungslos, traurig, wütend. Nie werde ich das Gefühl von Scham vergessen, als uns wochenlang ein sicherer Hafen verwehrt wurde, und wir unsere Crew aus Ehrenamtlichen austauschen mussten. Während wir an Land gebracht und von neuen Crewmitgliedern abgelöst wurden, mussten unsere Gäste an Bord zurückbleiben, geschwächt und mit schwindender Hoffnung. Es sind Hautfarbe, Herkunft und Pass die entscheiden, wer an Land gehen darf. Wen Europa ertrinken lässt.
Kurz zuvor hatten wir auf dem Achterdeck zusammen Heiligabend verbracht. Menschen aus 17 Nationen, die gemeinsam aßen, sangen, tanzten. Es sind auch diese Momente, warum ich immer noch dabei bin, weitermache. Die Sea-Watch 3 war ein Flaggschiff im Kampf gegen das Sterbenlassen und die Menschenverachtung im Mittelmeer. Aber eben auch: Eine Insel der Menschlichkeit, Ort des Respekts und der Würde für Menschen auf der Flucht, die hier „Gäste“ genannt und auch als solche behandelt wurden.
Auch wenn es sehr kräftezehrend ist, die immer neu in den Weg gelegten Steine wegzuräumen oder zu umschiffen, ist es ein gutes Gefühl, Solidarität zu zeigen und Widerstand zu leisten. Denn Sea-Watch war nicht nur an der Rettung von über 45.000 Menschen beteiligt, sondern legt immer wieder den Finger in die Wunden der menschenverachtenden, mörderischen Außenpolitik der Europäischen Union. Apropos Finger: Es tut auch immer wieder gut, all den rechten, menschenverachtenden Arschkrampen da draußen einen fetten Mittelfinger zu zeigen und einfach weiterzumachen!
Deshalb: Die Sea-Watch 3 ist Geschichte, wir machen weiter! Im Wasser und in der Luft. Mit unseren Suchflugzeugen Seabird 1 und 2, dem Rettungschiff Aurora und in naher Zukunft mit der Sea-Watch 5. Gegen das Sterbenlassen, für die Menschenrechte. Dies geht nur Dank der Hilfe unzähliger Spender:innen und hunderter Freiwilliger und Aktivist:innen, die Sea-Watch zu einem Beispiel für gelebte Solidarität und zivilgesellschaftliches Engagement machen.