Ein mit Menschen überfülltes Schlauchboot treibt auf wellenreichem Wasser, tagelang, viele Insassen sind seekrank und wissen nicht, wie lange die Tortur andauern wird. Dieses Szenario ist weiterhin Realität auf dem Mittelmeer. Und diese Fluchtroute ist tödlicher denn je: Weil Europa Migrationsverhinderung über die Wahrung der Menschenrechte stellt und Seenotrettung weitgehend unterbindet, hat sich im vergangenen Jahr der Anteil der Toten und Vermissten mehr als vervierfacht. Allein 2018 sind mindestens 2.277 Menschen während ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben. Erschreckend dabei ist auch: 85 Prozent der Deutschen ist laut YouGov-Umfrage* im Auftrag von Sea-Watch dieses Ausmaß gar nicht bewusst. Einer der Gründe für diese Unwissenheit ist, dass die EU es neutralen Beobachtern auf dem Mittelmeer immer stärker erschwert, über diese Missstände berichten zu können.
Um auf die stetig wachsende Lebensgefahr für Flüchtende aufmerksam zu machen und die Notwendigkeit ziviler Seenotrettung aufzuzeigen, hat Sea-Watch jetzt ein Experiment gewagt: Rund 40 Freiwillige haben an der Simulation einer „Mittelmeerflucht“ teilgenommen und sich für Stunden in ein überfülltes Rettungsboot begeben, um die Torturen der vielen flüchtenden Menschen zumindest im Ansatz körperlich und emotional nachzuempfinden. Das Experiment wurde in Zusammenarbeit mit Menschen, die über das Mittelmeer geflüchtet sind, entwickelt. Das Ergebnis hat der Oscar-nominierte Regisseur Skye Fitzgerald für Sea-Watch in einem Film festgehalten: www.lifeboatexperiment.org
„LIFEBOAT – Das Experiment“
„Täglich sterben Menschen bei ihrer Flucht auf dem Mittelmeer, weil die europäische Politik tausendfaches Sterben billigend in Kauf nimmt und zivile Seenotrettungsorganisationen an ihrer Arbeit gehindert werden. Die Pflicht zur Seenotrettung ist Völkerrecht und Menschenrechte sind nicht verhandelbar“, so Michael Schwickart von Sea-Watch. „Mit „LIFEBOAT – Das Experiment“ wollen wir auf die Erfahrungen von Geflüchteten aufmerksam machen und die Frage stellen, ob Regierungen auch dann nicht handeln würden, wären weiße Deutsche in Seenot.”
Sea-Watch hat die Fluchtsimulation in enger Zusammenarbeit mit Überlebenden von Mittelmeerfluchten, auf Basis ihrer persönlichen Erlebnisse und Gefühle entwickelt, ohne die Differenz zwischen Simulation und Realität zu verwischen. „Es waren ungefähr 300 Leute, das Boot war sehr klein. Wir waren 23 Stunden auf dem Boot. Das Wetter war nicht sonderlich gut. Es war sehr windig und hoher Wellengang“, beschreibt Khadra (18) ihre Überfahrt von Libyen nach Italien. „Außer Wasser habe ich nichts gesehen. Von links nach rechts, soweit das Auge reicht: Nur Wasser.“
So drängten sich rund 40 Menschen für das Experiment auf unbestimmte Zeit auf ein überfülltes Schlauchboot. Die Teilnehmer*innen hatten sich im Gegensatz zu Flüchtenden, denen meist keine andere Option bleibt, freiwillig in diese Situation begeben, um zu erfahren wie sich Menschen fühlen müssen, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen.
In einer maritimen Trainingsanlage wurde 5 Stunden lang simuliert wie eine solche Überfahrt verlaufen kann: Seegang, Lichtverhältnisse und Geräuschkulisse in ständiger Veränderung, um die äußeren Gegebenheiten einer realen Überfahrt so nahe wie möglich anzupassen. Im Gegensatz zu den Geflüchteten auf dem echten Meer konnten die Testpersonen jederzeit das Experiment abbrechen, aus dem Boot springen und mit wenigen Zügen ans Ufer schwimmen. Ihre Sicherheit war durch Rettungstaucher und medizinisches Personal gewährleistet.
Saher (30) über seine Motivation, am Projekt „LIFEBOAT – Das Experiment“ teilzunehmen: „Mit meiner Teilnahme an ‚LIFEBOAT – Das Experiment‘ möchte ich Flüchtlingen, die nicht selbst sprechen können, eine Stimme geben, die gehört werden kann. Meine Reise war die schlimmste Zeit meines Lebens, aber ich weiß auch, dass es noch mehr schlimmere Geschichten gibt. Es ist sehr klug, die Deutschen ein wenig von dem Leiden erfahren zu lassen, das ich durchgemacht habe, weil die Menschen den Flüchtlingen nicht mehr zuhören.„
Das Ergebnis des Experiments: 7 Teilnehmer*innen verließen das Boot vorzeitig, die restlichen Freiwilligen hielten bis zum Ende durch, mit Übelkeit hatte der Großteil zu kämpfen. Bei allen Teilnehmer*innen blieb jedoch die Gewissheit, dass nur extreme Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Menschen dazu bewegen können, sich diesen Strapazen auszusetzen. „Ich habe ein besseres Verständnis dafür bekommen, in was für einer Notsituation man sich befinden muss, um so ein großes Risiko einzugehen“, sagte ein*e Teilnehmer*in nach dem Experiment.
Das Experiment in Bildern
Das Experiment selbst sowie Erfahrungsberichte von Geflüchteten und die Eindrücke der Teilnehmer*innen wurden filmisch festgehalten und in einem Dokumentarfilm zusammengebracht. Die kreative Durchführung sowie die Vor- und Nachbereitung übernahm der Oscar-nominierte Regisseur Skye Fitzgerald. „Dieses Experiment wird ein Teil des Dialoges sein, der eine Veränderung bringt. Es soll die Menschen dazu bringen, darüber nachzudenken, wie wir mit dieser Krise sinnvoller und bedeutender umgehen können. Wenn wir nur die Meinung und Wahrnehmung eines einzelnen Menschen ändern können, ist es ein Erfolg“, erklärt Fitzgerald seine Beweggründe.
Mehr Informationen zum LIFEBOAT-Experiment gibt es unter www.lifeboatexperiment.org
*YouGov-Umfrage im Auftrag von Sea-Watch, Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage der YouGov Deutschland GmbH, an der 2027 Personen zwischen dem 20.03.2019 und 22.03.2019 teilnahmen. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren.