Einen Tag vor der ersten Lesung einer Gesetzesänderung im Bundestag fordern mehrere zivile Seenotrettungsorganisationen die Abgeordneten auf, die im Gesetzesvorschlag verankerte Möglichkeit zur Strafverfolgung von humanitärer Nothilfe zu kippen.
SOS Humanity, Sea-Watch und Sea-Eye sowie das Bündnis United4Rescue und #LeaveNoOneBehind erwarten von den Parlamentsmitgliedern, einen BMI-Gesetzesentwurf abzulehnen, mit dem unter anderem Seenotrettung mit bis zu 10 Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Die Seenotretter:innen protestieren zusammen mit über 50 Organisationen gegen den Gesetzesvorschlag, die Petition “Keine Haft für zivile Seenotrettung” haben bislang über 115.000 Menschen gezeichnet. Nun legen die Organisationen eine juristische Einordnung vor, um auf die im Entwurf für das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ versteckte Änderung des §96 Aufenthaltsgesetz aufmerksam zu machen.
Der Paragraf wurde so verändert, dass zivile Seenotretter:innen, die der internationalen Pflicht zur Rettung nachkommen, zukünftig in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden könnten, da auch uneigennützige Hilfe für Flüchtende strafbar sein soll. Somit würden Mitarbeitende von Hilfsorganisationen für ihre Arbeit strafrechtlich verfolgt werden können.
Die Beschwichtigungsversuche des BMI, mit denen das Ressort auf die Vorwürfe reagierte, sind für die Organisationen unzureichend. So wurde in der Begründung der Gesetzesänderung festgehalten, dass zivile Seenotrettung durch das Gesetz nicht belangt werden soll. Eine Gesetzesbegründung gibt Helfenden der Seenotrettung jedoch keine Rechtssicherheit. Mehrere Juristinnen und Juristen haben den Gesetzentwurf auf die mögliche Strafbarkeit von Seenotrettung auf dem Mittelmeer überprüft und bestätigen die Gefahr der Strafverfolgung. Auch zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl oder Amnesty International haben den Gesetzentwurf bereits als menschenrechtswidrig eingestuft.
“Menschen aus Seenot zu retten ist eine rechtliche und humanitäre Pflicht, der Gesetzesentwurf muss sofort gestoppt werden”, sagt Oliver Kulikowski, Sprecher von Sea-Watch. “Die höchsten Todeszahlen im Mittelmeer seit Jahren bekämpft man nicht durch Haftstrafen für Retter:innen. Dass die Bundesregierung dem Rechtsruck mit Kriminalisierung von Seenotrettung und Flüchtenden sowie verschärften Abschiebemaßnahmen begegnet zeigt, dass sie gar nichts verstanden hat.”
Die erste Lesung zum „Rückführungsverbesserungsgesetz“ ist für Donnerstag, 30. November 2023, ab 9:00 Uhr im Bundestag eingeplant.
Hintergrund und weiterführende Links
Bislang steht in Deutschland nur unter Strafe, wer „Ausländer“ gegen einen persönlichen Vorteil wie finanziellen Gewinn in den Schengenraum bringt. Nun aber hat das Bundesinnenministerium eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, die vom Kabinett bestätigt wurde, sodass auch die uneigennützige, humanitäre Hilfe für Flüchtende strafbar wird. Schon nächste Woche soll das „Rückführungsverbesserungsgesetz“, in welchem neben Asylrechtsverschärfungen eine Ausweitung der Strafbarkeit von Hilfe für Flüchtende im Paragrafen 96 Aufenthaltsgesetz enthalten ist, in den Bundestag eingebracht werden. Demnach unterliegen Helfende, die „wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handeln“, indem sie diese in den Schengenraum bringen, der Strafverfolgung. Nach Einschätzung von Juristinnen und Juristen beträfe dieses Gesetz auch die lebensrettende Arbeit auf dem Mittelmeer durch zivile Seenotrettungsorganisationen. Der unabhängige Jurist R.A. David Werdermann: „Die Gesetzesänderung ist so gut versteckt, dass ich nur durch Zufall darauf gestoßen bin und selbst spezialisierte Jurist*innen sie nur mit Mühe nachvollziehen können.“
David Werdermann hat die Gesetzesänderung im Detail analysiert und hier veröffentlicht: Faktencheck Seenotrettung: Innenministerium täuscht Bundestag – Volksverpetzer.
Stellungnahme von 56 Organisationen gegen die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe vom 21.11.2023, unterzeichnet u.a. von: Amnesty International Deutschland, Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland, Ärzte ohne Grenzen Deutschland, Brot für die Welt Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., Kindernothilfe e.V., Der Paritätische Gesamtverband, PRO ASYL, SOS-Kinderdörfer e.V., terre des hommes, u.v.m.
Rechtsgutachten von Jurist David Werdermann und Juristin Vera Magali Keller.
Petition von SOS Humanity gemeinsam mit Sea-Watch, United4Rescue und weiteren NGOs mit bereits über 115.000 Unterschriften.