Bewaffnete Milizen ziehen raubend und mordend durch Libyen. Weder Libyer noch Migranten sind vor ihnen sicher. Es bleibt nur die Flucht über das Mittelmeer, die gefährlichste Grenze der Welt
von Theresa Leisgang und Eva Hoffmann
Mohammed Osam spürt das kalte Metall der Gewehrmündung an seiner Stirn. Drei Männer mit Waffen haben das Auto umzingelt, in dem er mit seiner Ehefrau Fatma und seiner Tochter Asha sitzt. Lüstern sagt der jüngste Milizionär: „Wir wollen mal mit deiner Frau reden.“ Mohammed sieht, wie der Mann nach ihr greift, zuckt unweigerlich, als er spürt, wie der Druck der Mündung an seiner Stirn stärker wird. „Sei lieber nett zu uns“, sagt ein anderer Milizionär.
Das ist der Augenblick, in dem Mohammed begreift, dass er Libyen verlassen muss. Heute haben sie nur sein Auto genommen. Das nächste Mal könnte es eine seiner drei Töchter sein. Täglich kidnappen Milizen Menschen, um Lösegeld zu erpressen. Die einzige Möglichkeit, seine Familie zu schützen sieht Mohammed in der Flucht über das Mittelmeer. „Bevor meinen Kindern etwas zustößt, das ich mir nicht verzeihen könnte, sterben wir lieber gemeinsam im Meer.“
Seit dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi 2011 versinkt Libyen immer tiefer im Bürgerkrieg. Mehr als eine Million Libyer sind im eigenen Land auf der Flucht. Warlords und Milizen kämpfen um Geld und Macht, um die Kontrolle über Straßenkreuzungen, Öl und den Schmuggel hunderttausender Migranten und Migrantinnen. Selbst Kinder tragen Kalaschnikows. Getötet wird aus Rache oder für eine Packung Zigaretten, erzählen jene, die dem Chaos entkommen sind.
Selbst Kinder tragen Kalaschnikows. Getötet wird aus Rache oder für eine Packung Zigaretten
Vor der Revolution reparierte Mohammed die Autos des städtischen Krankenhauses von Bengasi. Von seinem Lohn kaufte er für seine Familie und sich ein zweistöckiges Haus mit einem kleinen Garten. Sie lebten in einem guten Viertel. Jetzt steht er in seinem Schlafzimmer und packt ein paar Klamotten, nur das allernötigste, in zwei große schwarze Rucksäcke. 10.000 Libysche Dinar, umgerechnet 6500 Euro, hat er einem Schleuser für fünf Plätze auf einem Holzboot bezahlt.
An einem unbeleuchteten Strand gibt der Schleuser einem von Mohammeds Mitfahrern einen Kompass und sagt: „Immer Richtung Norden!“ Dann stößt er das kleine blaue Fischerboot in die Brandung. Es ist überladen und liegt tief im Wasser. Der Älteste an Bord ist über 60 Jahre alt, der jüngste Passagier erst zwei Monate. Mohammed sieht die graue Küstenlinie verschwinden. Nichts ist zu hören, bis auf das Schwappen der Wellen und das Stottern des Außenborders. Dann wird es still. Der Motor versagt. Das Boot dreht sich in die Wellen, Wasser schlägt über die Bordwand. Alle um ihn herum schreien, Panik bricht aus. Fatma und Mohammed nehmen ihre Töchter zwischen sich und ergeben sich dem Gedanken, dass sie sterben werden.
Als der Morgen graut, steht der Familie das Wasser bis zu den Knien. An Bord herrscht resigniertes Schweigen. Plötzlich taucht am Horizont ein Boot auf. Es rast auf sie zu. An Bord stemmen sich drei Frauen mit weißen Helmen gegen die emporspritzende Gischt. Eine von ihnen ist Stefanie Pender. Die Ärztin ist ehrenamtlich mit der Organisation Sea-Watch unterwegs, um Menschen aus Seenot zu retten – 35.000 waren das seit der Gründung des Vereins. „Wenn die Politik das Sterben einfach ignoriert, müssen wir eben selbst etwas unternehmen“, findet die 28-Jährige.
Als Stefanie Mohammed die Hand reicht und ihn an Bord des Rettungsschiffs zieht, laufen dem Familienvater Tränen über die Wangen. „Wie konnte ich das meiner Familie nur antun?“, fragt er mit leiser Stimme. Seine Frau Fatma bricht zusammen. Das schwarze Tuch rutscht ihr ein Stück vom Kopf.
Stefanie legt ihr eine Infusion mit Kochsalzlösung, bevor sie nach den Kindern guckt. Sie macht sich Sorgen über deren leere Blicke. Sie bietet der 6-jährigen Asha ein Bonbon und etwas Apfelsaft an, keine Reaktion. „Auf der Flucht ist es das Schlimmste für Kinder, die eigenen Eltern zusammenbrechen zu sehen. Damit verlieren sie das letzte bisschen Sicherheit“, sagt Stefanie.
Doch statt sichere Fluchtwege zu eröffnen, bezahlt die Europäische Union seit Februar 2017 die sogenannte Libysche Küstenwache dafür, Flüchtlingsboote abzufangen und zurück zum Festland zu bringen, wo Folter und Gewalt drohen. Das verstößt gegen das internationale See- und Völkerrecht.
“Wo kommen wir hin, wenn elementarste Grundrechte vom Pass abhängen und nur uns Privilegierten zugänglich sind?”, fragt sich Stefanie Pender. “Die europäischen Regierungen kalkulieren den Völkerrechtsbruch der libyschen Partner bewusst ein. Es reicht nicht, wenn sie in Brüssel oder Berlin über Menschenrechte reden. Sie müssen etwas tun für die Leute hier draußen!“
Das gilt umso mehr, als die Mitglieder der sogenannten libyschen Küstenwache selbst Milizionäre sind, die schießen und prügeln. Justina hat diese Gewalt erlebt. Die 25-jährige Nigerianerin wurde kurz nach Mohammed und seiner Familie gerettet. Jetzt steht sie an der Reling der Sea-Watch 2, blickt auf die Wellen und erzählt ihre Geschichte. Getrocknetes Salz klebt an ihrer Haut.
Um einen Job zu finden, war Justina mit ihrem Ehemann auf der Ladefläche eines Lastwagens durch die Sahara nach Libyen gekommen. Bewaffnete entführten sie und sperrten sie in eines der vielen Internierungslager, die es überall im Land gibt. Allein in den Lagern der „Einheitsregierung“, mit der die EU in Verhandlungen steht, werden nach eigenen Angaben 20.000 Menschen festgehalten. Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen berichteten im Dezember: „In einem der staatlichen Lager teilen sich bis zu 700 Männer, Frauen und Kinder einen einzigen Wasserhahn.“ Zu den Camps der Milizen haben weder Hilfsorganisationen noch Journalisten Zutritt. Wer wissen will, was dort passiert, muss mit Überlebenden wie Justina sprechen.
Die Flucht über das Meer war ihre einzige Chance, den Lagern zu entkommen
Sie erzählt, dass sie zur Arbeit gezwungen wurde, dass es außer Brot nichts zu essen gab und sie nicht bezahlt wurde. Sie hatte davon gehört, wie andere Migranten gefoltert und Frauen vergewaltigt wurden. Aber solange sie mit ihrem Mann zusammen ist, würde ihr das nicht passieren. Dachte sie damals. Eines Morgens schloss ein Wärter die schwere Stahltür ihrer Zelle auf. Von seiner Schulter baumelte eine Kalaschnikow. Er zeigte mit dem Finger auf sie und befahl ihr, ihm zu folgen. „Draußen hat er mir gesagt, ich soll seinen Schwanz lutschen”, sagt sie. Ihre Stimme bricht. Auf ein Schlauchboot nach Europa zu steigen hatte sie nie geplant, aber es war ihre einzige Chance, den Lagern in Libyen zu entkommen.
Ein kleiner Ort in der französischen Normandie, sieben Monate später. Mohammed sitzt mit seiner Frau auf einem Teppich in einer spärlich eingerichteten Einzimmerwohnung, die sein neues Zuhause ist. Der libysche Familienvater heißt eigentlich anders. Alle Namen und Aufenthaltsorte müssen anonym bleiben: Nachdem ein Bekannter über Facebook erfahren hatte, dass die Familie geflohen war und die Nachricht verbreitete, plünderte eine Miliz ihr Haus. Die Erlebnisse sind nicht spurlos an Mohammed vorbeigegangen.
Er sieht älter aus als seine 35 Jahre. Sorgenfalten haben sich in seine Stirn gegraben. Sie verschwinden nur, wenn eine seiner Töchter auf seinen Schoß hüpft und ihre kleinen Finger in seinen Bauch piekst. Auch sie haben die Schießereien in Libyen nicht vergessen. Am Nationalfeiertag, als ein Feuerwerk die Stadt erleuchtete und es an jeder Ecke knallte, packte sie das Trauma. Für einen Moment glaubten die Kinder, der Krieg hätte sie eingeholt. Langsam lernen sie Französisch und finden neue Freunde. Ihr Vater sagt: „Aus einem Alltag voller Tod und Gewalt auf dieses Schiff zu kommen, wo sich Freiwillige für andere einsetzen – das hat uns ermutigt, wieder an das Leben zu glauben.“
Fotos: Fabian Melber, Moritz Richter, Raoul Kopacka
zuerst erschienen in einer Beilage zur tageszeitung taz am 14. Dezember 2017.