„Alle Leben müssen gerettet werden, an Land wie auf See!“
Vor zwei Tagen, am 7. April, erließen die italienischen Ministerien für Verkehr, Gesundheit, Inneres und das Außenministerium eine dringliche Verordnung.¹ Dieser zufolge sei Italien aufgrund der andauernden Covid-19-Krise nicht in der Lage, die völkerrechtlich vorgeschriebenen „sicheren Orte“ für die Anlandung von aus Seenot geretteten Personen zur Verfügung zu stellen. Eine gemeinsame Erklärung von vier NGOs, die sich in der Seenotrettung im Mittelmeer engagieren:
Die Organisationen Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, Open Arms und Mediterranea bringen ihre Bestürzung über die Entscheidung der italienischen Regierung zum Ausdruck, den aktuellen medizinischen Notstand zu instrumentalisieren und ihre Häfen für ausländisch geflaggte Schiffe mit geretteten Menschen an Bord zu schließen. Diese Maßnahme scheint wieder einmal konkret auf die zivile Such- und Rettungsflotte abzuzielen.
Mit dem alleinigen Ziel, die Such- und Rettungsaktivitäten im Mittelmeer zu stoppen – und ohne das Angebot von Alternativen, das Leben derer zu retten, die aus Libyen fliehen – spricht Italien seinen eigenen Häfen die seerechtliche Definition des „sicheren Ortes“ ab, die allen europäischen Häfen zuzuschreiben ist. Damit setzt sich Italien mit Ländern gleich, die sich im Krieg befinden oder in denen die grundlegenden Menschenrechte nicht gewahrt werden. Gleichzeitig findet eine willkürliche Verweigerung der Zufahrt in territoriale Gewässer statt.
Es gibt Möglichkeiten, die Notwendigkeit des Schutzes der Gesundheit von Menschen an Land mit der Pflicht zu verbinden, Leben auf See zu retten. Stattdessen werden die Rettungsschiffe durch die initiierte Verordnung mit Kreuzfahrtschiffen gleichgestellt.²
In einer Zeit, in der Italien Solidarität im Kampf gegen Covid-19 einfordert und Unterstützung sowohl von seinen internationalen Partnern als auch von NGOs erhält, sollte die Regierung die gleiche Art von Solidarität gegenüber den Menschen zeigen, die ihr Leben auf See riskieren müssen, weil sie keine Alternative haben.
Keine der Organisationen, die diese Erklärung unterzeichnen, ist derzeit mit ihren Schiffen auf See, da durch die gegebene Situation die Rettungseinsätze umstrukturiert werden müssen und um der Covid-19-Pandemie mit geeigneten Präventions- und Eindämmungsmaßnahmen entgegentreten zu können.
Wir sind uns der Notsituation, in der wir uns alle befinden, mehr als bewusst. Alle unterschreibenden Organisationen haben dem italienischen Gesundheitssystem Ressourcen und Personal zur Verfügung gestellt, um das Land in dieser tragischen Situation zu unterstützen.
Trotzdem wartet ein Schiff der zivilen Seenotrettung mit 150 Menschen an Bord, darunter einer Schwangeren, auf einen sicheren Hafen. Der gegenwärtige Gesundheitsnotstand entbindet uns nicht von der Verpflichtung, so bald wie möglich eine sichere Anlandung für die ‘Alan Kurdi’ zu gewährleisten.
Die neue Verordnung instrumentalisiert den Covid-19 Gesundheitsnotstand und reiht sich ein in die jahrelangen Bemühungen, unliebsame Such- und Rettungsaktivitäten auf See zu verhindern. Doch gerade in solch schwierigen Zeiten, wie wir sie jetzt erleben, ist es umso notwendiger, dass die europäischen Länder ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Rettung von Menschenleben nachkommen.
Ebenso wie die Verordnung “Sicurezza Bis” des ehemaligen Innenministers Salvini stuft auch dieses neue Dekret ausländische Schiffe mit geretteten Schiffbrüchigen an Bord als Bedrohung ein. Es verweist sie implizit in den Verantwortungsbereich des Bürgerkriegslandes Libyen und legt die Anlandungen Überlebender in geographisch fernen Ländern nahe – beides im Bruch mit dem Völkerrecht.
In diesen schwierigen Tagen sind es Einfühlungsvermögen und Solidarität – insbesondere mit den Menschen, die ums Überleben kämpfen, und denen, die Angehörige verloren haben – die es uns allen ermöglichen, durchzuhalten. Deshalb darf das Leiden der Bürger*innen, die von dieser Gesundheitskrise betroffen sind, nicht instrumentalisiert werden, um denjenigen die notwendige und rechtlich obligatorische Hilfe zu verweigern, die nicht auf einer Intensivstation, sondern unter Wasser aufhören zu atmen.
Jedes Leben ist es wert, gerettet zu werden. Alle gefährdeten Menschen müssen geschützt werden, an Land und auf See. Das ist möglich und das ist unser aller Pflicht.
*** Fußnoten
¹ Notiz des italienischen Transportministeriums zur neuen Verordnung:
http://www.mit.gov.it/index.php/comunicazione/news/migranti-porti/alan-kurdi-porti-italiani-privi-dei-requisiti-di-sicurezza
² Als Teil der Covid-19 Notstandsgesetzgebung hatte das italienische Ministerium für Infrastruktur und Transport in einem früheren Erlass vom 20. März Richtlinien festgelegt und das Einlaufen von ausländisch geflaggten Kreuzfahrtschiffen in italienische Häfen verboten. (http://www.mit.gov.it/sites/default/files/media/notizia/2020-03/decreto%20125%2019mar20.pdf). Die Gleichsetzung von Tourismus und Seenotrettung und ihren jeweiligen Notwendigkeiten, in italienische Häfen einzulaufen, ist jedoch offensichtlich unangemessen.