Gemeinsame Erklärung von Alarm Phone, Mediterranea Saving Humans und Sea-Watch
Am Samstag, den 11. März, nur zwei Wochen nachdem mindestens 79 Menschen bei einem Schiffbruch vor der italienischen Küste ertrunken sind, haben italienische und maltesische Behörden erneut Menschen sterben lassen. Diesmal führte ihre Unterlassungspolitik und die Auslagerung ihrer Aufgaben an die so-genannte libysche Küstenwache zum Tod von 30 Menschen, die sich auf einem in Seenot geratenen Boot in internationalen Gewässern innerhalb der umstrittenen libyschen Such- und Rettungsregion (SAR) befanden. 47 Menschen trieben auf dem seeuntauglichen Boot auf dem Meer. Von ihnen konnten nur 17 Personen durch das Eingreifen eines Handelsschiffs gerettet werden. Die insgesamt 30 Toten könnten noch am Leben sein, sofern die italienischen und maltesischen Behörden unverzüglich eine angemessene Rettungsaktion eingeleitet hätten.
Diese Todesfälle sind kein Unfall. Sie sind die Konsequenz von bewussten politischen Entscheidungen. Die italienischen und maltesischen Behörden hätten sofort eingreifen können. Stattdessen warteten sie ab und verwiesen auf die so genannte libysche Küstenwache als verantwortliche und „zuständig“Institution. Die so vergeudetet Zeit wäre dringend zur Rettung aller in Not geratenen Menschen nötig gewesen.
Die italienischen, maltesischen und libyschen Behörden wurden erstmals am 11. März um 2:28 Uhr MEZ (siehe Zeitleiste) über einen Notruf durch das Alarm Phone informiert. Der Öltanker AMAX AVENUE und einige Zeit später das Handelsschiff GAMMA STAR befanden sich in der Nähe des in Seenot geratenen Bootes, fuhren aber daran vorbei. Erst mehrere Stunden später steuerte schließlich ein weiteres Handelsschiff, die BASILIS L, die Position des sich in Gefahr befindenden Bootes an. Während die BASILIS L auf ein besser ausgerüstetes Schiff für die Rettung wartete, beobachtete es das in Seenot geratene Boot. Die italienischen und maltesischen Behörden beschlossen währenddessen vergeblich, sich auf den Einsatz von libyschen Patrouillenbooten zu verlassen – diese sollten die geretteten Personen illegal nach Libyen zurückbringen, anstatt sie in einen europäischen Hafen zu retten.
Trotz der schwierigen Seebedingungen und des katastrophalen Zustands des Bootes mobilisierten weder die italienischen noch die maltesischen oder libyschen Behörden ihre Rettungskapazitäten – trotz bereits über 30 vergangenen Stunden seit der ersten Alarmierung durch das Alarm Phone. In der Vergangenheit hatte die Seenotrettungsleistelle in Rom bereits in anderen Fällen außerhalb ihres Such- und Rettungsbereichs die Koordinierung von Handelsschiffen übernommen (Fußnote 1). Außerdem befand sich der Ort des Schiffbruchs in internationalen Gewässern, außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer. Das in Seenot geratene Schiff befand sich im Einsatzgebiet der europäischen Mission EUNAVFORMED IRINI und der italienischen Mission „Mare Sicuro“, wobei sowohl italienische als auch europäische Militäreinheiten in der Region präsent sind. Keines der Einsatzmittel antwortete auf den Hilferuf, den das von Sea-Watch betriebene Suchflugzeug Seabird über Funk abgesetzt hatte, noch wurden sie von den informierten italienischen oder maltesischen Behörden in die Rettungsaktion einbezogen. Die italienischen Behörden überließen die Rettung stattdessen Handelsschiffen, die für Rettungseinsätze nicht ausreichend ausgerüstet sind.
Sowohl die Verzögerung der Rettungsaktion, als auch die Übertragung der Verantwortung für die Rettung an Handelsschiffe, sind Teil einer politischen Strategie, die darauf abzielt, Menschen entweder in die Gewalt libyscher Milizen zu bringen oder sie auf See auszusetzen. Für den Tod der 30 Menschen – und von unzähligen anderen an den europäischen Seegrenzen – tragen Italien, Malta und andere EU-Mitgliedstaaten die primäre Verantwortung.
Als Alarm Phone, Mediterranea Saving Humans und Sea-Watch prangern wir die Verantwortung europäischer Mitgliedsstaaten, allen voran Italiens und Maltas, an. Wir fordern sie auf ihre Abschottungspolitik und die Delegation ihrer Aufgaben an Libyen zu beenden. Beides sind zentrale Faktoren, die zum Tod der 30 Menschen in Seenot – sowie Tausender weiterer Personen zuvor – geführt haben.
Die italienischen und maltesischen Behörden müssen die Delegation von Seenotrettungsfällen an die sogennante libysche Küstenwache einstellen. Diese weist eine erschreckende Menschenrechtsbilanz auf, hat bereits über 100.000 Menschen nach Libyen in unmenschliche Bedingungen zurückgeschickt. Außerdem kann das umstrittene libysche Such- und Rettungsgebiet nicht als unter der alleinigen Verantwortung der libyschen Behörden stehend betrachtet werden. Letztlich müssen die italienischen und maltesischen Behörden auch aufhören, sich allein auf Handelsschiffe zu verlassen, um ihre Rettungspflicht zu erfüllen.
Zahlreiche Fragen bleiben unbeantwortet: Warum haben die italienischen und maltesischen Behörden nicht eingegriffen und die in Seenot geratenen Personen gerettet? Warum hat kein Einsatzmittel der Operation EUNAVFOR MED IRINI auf den Notruf von Seabird reagiert? All diese Behörden müssen Rechenschaft über ihre Rolle und Untätigkeit in diesem Fall ablegen.
Wir fordern die Europäische Union auf, sichere und legale Fluchtwege nach Europa zu gewährleisten und ein Such- und Rettungsprogramm zu implementieren, anstatt die so genannte libysche Küstenwache zu finanzieren sowie auszurüsten und damit völkerrechtswidrige Pullbacks zu unterstützen.
(1) Beispiele für Fälle von Rettungen durch Handelsschiffe in der der libyschen SAR nach der Koordination durch die Seenotrettungsleitstelle Rom.
https://twitter.com/scandura/status/1586442702068994048?s=20&t=678YEHDH1wW4VABZZ59-eg
https://twitter.com/alarm_phone/status/1588249230438584320
https://twitter.com/alarm_phone/status/1616089062678450177
Zeitleiste der Ereignisse
Samstag, 11. März
01:32 Uhr MEZ: In der Nacht erhält das Alarm Phone den ersten Anruf von Menschen in Seenot. Die Menschen schreien wiederholt „Bitte helft mir“, können aber keine GPS-Position angeben.
01:38 Uhr MEZ: Das Alarm Phone empfängt eine erste GPS-Position (N 33 55, E 018 27), die Verbindung bricht jedoch ab. Das Alarm Phone versucht, die Position zu bestätigen, indem es probiert, das in Seenot geratene Boot zu erreichen.
02:09 Uhr MEZ: Das Alarm Phone erreicht das Boot erneut. Die Position (N 33 56, E 018 28) deutet darauf hin, dass das Boot treibt. Die Kommunikation mit den Menschen in Seenot ist wegen des starken Windes extrem schwierig.
02:28 Uhr MEZ: Das Alarm Phone informiert die Seenotrettungsleitstellen von Italien, Malta und Libyen (ITMRCC, RCC Malta & JRCC Libya) per Email über das Boot in Seenot.
03:10 Uhr MEZ: Da sich der Öltanker AMAX AVENUE (IMO: 9419450) dem Areal des Seenotfalls nähert, informiert Alarm Phone die Behörden per E-Mail über diese Option auf eine Rettung und kontaktiert um 3:28 Uhr MEZ auch selbst die Versicherungs- und Reedereiunternehmen des Tankers per E-Mail und Telefon.
09:50 Uhr MEZ: Das Alarm Phone stellt fest, dass der Öltanker AMAX AVENUE seinen Kurs nicht geändert hat. Da sich nun das Handelsschiff GAMMA STAR (IMO: 7703259) in der Nähe des in Seenot geratenen Bootes mit den 47 Personen befindet, informiert das Alarm Phone die Behörden auch über diese Rettungsmöglichkeit.
09:53 Uhr MEZ: Die Menschen in Seenot berichten, dass sie vor 2 Tagen von Tobruk, Libyen aufgebrochen sind. Die Person am Telefon weint, wie auch viele andere an Bord, wie man im Hintergrund hören kann. Die Menschen berichten, dass sie kein Essen und kein Trinkwasser mehr haben und bitten wiederholt um Rettung. In den folgenden Stunden steht das Alarm Phone in ständigem Kontakt mit den Menschen an Bord. Sie sind verängstigt und schreien um Hilfe. Sie berichten, dass sie keinen Treibstoff mehr haben und das Boot beschädigt ist. Alle GPS-Positionen bestätigen, dass das Boot nur treibt. Das Alarm Phone informiert alle Behörden kontinuierlich über die aktuelle Situation, sowohl per E-Mail als auch durch Anrufe bei ITMRCC, RCC Malta und JRCC Libyen (dies schließt Versuche ein, die so genannte libysche Küstenwache unter den vielen verfügbaren Telefonnummern zu erreichen).
10:32 Uhr MEZ: Das Sea-Watch-Suchflugzeug Seabird sichtet das in Seenot geratene Boot in der sogenannten libyschen Such- und Rettungszone (SAR).
10:34 Uhr MEZ: Seabird sendet ein „Mayday Relay“ über Funk (ein Notfallverfahren, bei dem Informationen über ein in Seenot geratenes Boot über See- oder Luftfunk übermittelt und alle in der Nähe befindlichen Einsatzkräfte um Hilfe gebeten werden).
10:37 Uhr MEZ: Das Handelsschiff BASILIS L (IMO: 9290505) unter der Flagge der Marshallinseln, bestätigt das Mayday Relay. Das Schiff teilt mit, dass es sich in einer Entfernung von 15 Seemeilen zum Seenotrettungsfall befindet (Seemeilen sind die auf See verwendete Maßeinheit. 1 Seemeile entspricht 1,852 Kilometern) und sich auf dem Weg dorthin macht.
11:18 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird sendet eine E-Mail an die italienischen, maltesischen und libyschen Behörden, mit dem Handelsschiff BASILIS L in CC, um sie über das Boot in Not zu informieren.
11:27 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird ruft das ITMRCC an. Das ITMRCC bestätigt, dass sie die E-Mail erhalten haben. Nachdem die Bodencrew die Dringlichkeit der Angelegenheit gegenüber dem italienische Beamten betont und nach den Absichten des ITMRCC gefragt hat, verweist der Beamte an die libyschen Behörden und legt auf.
11:30 Uhr MEZ: In einem Telefonat mit dem Handelsschiff BASILIS L erfährt das Alarm Phone, dass das Schiff von den libyschen Behörden den Auftrag erhalten hat, die Situation zu beobachten, bis die sogenannte libysche Küstenwache eintreffen und die Menschen nach Libyen zurückbringen soll.
11:31 Uhr MEZ: Seabird ruft das Handelsschiff BASILIS L über Funk an und fragt, ob sie eine aktualisierte GPS-Position benötigen, da das in Seenot geratene Schiff treibt. Die BASILIS L antwortet, dass sie nach Anweisungen des ITMRCC in Kontakt mit der so genannten libyschen Küstenwache steht. Die so genannte libysche Küstenwache hat ihnen einen Zielort genannt, zu dem sie weiterfahren sollen.
12:10 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird ruft das JRCC Libyen an: die libyschen Behörden sind sich des Notfalls bewusst und sagen, dass sie die Informationen an die Einsatzzentrale in Benghazi weitergeleitet haben. Die Bodencrew der Seabird fragt, ob sie eine Rettungsaktion durchführen. Die libyschen Behörden antworten, dass dies im Moment nicht der Fall sei.
12:11 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird sendet eine E-Mail an das Handelsschiff BASILIS L, in der sie an die Pflicht zur Seenotrettung erinnert und das „Rettungs Kit“von Sea-Watch schickt.
12:12 Uhr MEZ: Die Flugzeugcrew der Seabird ruft das Handelsschiff BASILIS L an und erinnert es an den Zustand des in Seenot geratenen Bootes sowie an seine Pflicht zur Rettung.
12:15 Uhr MEZ: Das Alarm Phone versucht, das Handelsschiff BASILIS L zu kontaktieren.
12:30 UHR MEZ: Das Handelsschiff BASILIS L überprüft die Situation und beobachtet das Boot in Seenot.
12:39 Uhr MEZ: Das Handelsschiff BASILIS L ist 0,8 Seemeilen von den 47 Menschen in Seenot entfernt.
12:50 Uhr MEZ: Die Flugbesatzung von Seabird ruft die BASILIS L an und teilt ihr mit, dass die sogenannte libysche Küstenwache nach den Informationen der Seabird-Bodencrew derzeit keine Rettungsaktion durchführt. Das Handelsschiff antwortet, dass sie die Anweisungen des JRCC befolgen, die gesagt hätten, dass sie ein Boot schicken würden. Das Handelsschiff selbst kann aufgrund des schlechten Wetters nicht retten.
13:12 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird ruft das JRCC Libyen an: Das JRCC hat nur die Anweisung gegeben, dem in Seenot geratenen Boot Schutz zu gewähren, aber keine Anweisungen zur Rettung. JRCC Libyen will ein Schiff aus Benghazi zur Rettung schicken und fügt hinzu: „Wenn das Handelsschiff retten will, soll es das tun.“
13:25 Uhr MEZ: Die Flugzeugbesatzung von Seabird leitet die Information des JRCC an BASILIS L weiter.
13:26 Uhr MEZ: Die Seabird verlässt den Einsatzort.
14:33 Uhr MEZ: Die Bodencrew von Seabird sendet eine weitere E-Mail an das Handelsschiff BASILIS L.
14:50 Uhr MEZ: Die Bodencrew von Seabird sendet eine weitere E-Mail an die italienischen, maltesischen und libyschen Behörden.
15:29 Uhr MEZ: Die Bodencrew von Seabird versucht, die Behörden in Benghazi zu erreichen – niemand nimmt ab.
16:35 Uhr MEZ: Nachdem das Alarm Phone die libyschen Behörden unter verschiedenen Telefonnummern nicht erreichen konnte, erreicht es schließlich eine Telefonnummer der sogenannten libyschen Küstenwache in Tripoli. Der libysche Offizier sagt, dass sie das Handelsschiff um 13:30 Uhr MEZ aufgefordert hätten, das Boot zu retten, und dass sie keine Schiffe zur Rettung zur Verfügung stellen können, weder aus Benghazi noch aus Tripoli.
16:51 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird ruft das JRCC Libyen an: der Offizier sagt, dass kein Schiff aus Benghazi zur Verfügung steht – nur Schiffe im Westen Libyens wären verfügbar.
17:06 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird ruft das ITMRCC an und teilt dem MRCC Rom mit, dass das JRCC nicht in der Lage sei, ein Rettungsschiff zu schicken. Die Bodencrew der Seabird fragt, wer nun die Koordination übernehmen würde, da das JRCC nicht in der Lage sei, auf diesen Notruf zu reagieren. Der italienische Offizier legt auf.
18:20 Uhr MEZ: Die Bodencrew der Seabird ruft das RCC Malta an, der Offizier legt auf.
18:44 Uhr MEZ: Alarm Phone erfährt von der sogenannten libyschen Küstenwache, dass sie in Kontakt mit einem Handelsschiff stehen und das ITMRCC die Koordination des Einsatzes übernehmen wird.
19:59 Uhr MEZ: Die sogenannte libysche Küstenwache bestätigt dem Alarm Phone erneut, dass das ITMRCC die Operation übernimmt, da die libyschen Behörden nicht in der Lage sind, ein Schiff zu schicken.
Sonntag, 12. März
06:50 Uhr MEZ: Nachdem das Alarm Phone die ganze Nacht über in Kontakt mit den Menschen in Seenot stand, rufen sie das Alarm Phone erneut an und berichten, dass sie sehr erschöpft sind. Sie sagen, sie seien bereits seit drei Tagen ohne Hilfe auf See. Viele von ihnen weinen.
07:20 Uhr MEZ: Das Alarm Phone erhält einen Anruf von dem Boot in Seenot, es ist jedoch keine Kommunikation möglich. Dies ist der letzte Kontakt mit den Menschen in Seenot.
14:14 Uhr MEZ: Alarm Phone kontaktiert vergeblich die Schiffe BASILIS L, ATLANTIC NORTH (IMO: 9236597) und KINLING (IMO: 9893814), die auf der Tracking-Website „VesselFinder“ nahe der letzten bekannten Position des Bootes zu sehen sind.
14:35 Uhr MEZ: Das Alarm Phone erfährt, dass das Handelsschiff FROLAND (IMO: 9505584) 17 Personen an Bord genommen hat, nachdem das in Seenot geratene Boot am Morgen gekentert war. Es liegen keine Informationen vor, ob andere Handelsschiffe weitere Personen retten konnten.
16:23 Uhr MEZ: Das Handelsschiff MEDKON SAMSUN ist ebenfalls auf dem Weg zu dem in Seenot geratenen Boot, mit dem Ziel Misrata.
Montag, 13. März
07:31 Uhr MEZ: Das ITMRCC sendet eine Inmarsat-Nachricht aus, in der alle Schiffe im Seenotgebiet aufgefordert werden, nach den 30 vermissten Personen Ausschau zu halten.