Die Schiffsunglücke und das Verschwinden von Booten mit Menschen auf der Flucht Richtung Italien, nahe der tunesischen Küste, häufen sich seit zwei Jahren. Nach Angaben des FTDES (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte) sind zwischen Anfang des Jahres und Ende November 2022 mehr als 575 Menschen bei dieser Überfahrt ums Leben gekommen.
Dabei werden die zahllosen anderen unsichtbaren Schiffswracks nicht berücksichtigt – jene Boote, die spurlos verschwinden und Familien und Angehörige in endlose Zeiten der Ungewissheit und Trauer zwingen. An italienischen und zunehmend auch an tunesischen Stränden werden Leichen gefunden, die Leichenhallen sind überfüllt und es vergeht kaum eine Woche, in der nicht von einer Tragödie berichtet wird.
Doch während die Europäische Union Tunesien immer mehr Mittel zur Verfügung stellt und angeblich versucht, diese Tragödien zu vermeiden, werden immer mehr Fälle sichtbar, in welchen die tunesische Küstenwache direkt in gefährliche Manöver verwickelt ist, die bereits mehrere Migrant:innen das Leben gekostet haben. Zusammen mit anderen tunesischen zivilgesellschaftlichen Organisationen hat das Netzwerk Alarm Phone, eine Hotline für Menschen in Seenot, zahlreiche Zeugenaussagen, Fotos und Videos gesammelt, die in sozialen Netzwerken veröffentlicht wurden und das gewalttätige Handeln tunesischer Behörden bei ihren Abfangoperationen auf See belegen.
Schläge mit Stöcken, Schüsse in die Luft oder in Richtung des Motors, Messerangriffe, gefährliche Manöver, um die Boote zu versenken, Geldforderungen im Austausch für die Rettung… Die Praktiken der tunesischen Küstenwache, wie sie von Migrant:innen, die ihnen begegnet sind, berichtet werden, sind mehr als alarmierend. Sie sind tödlich, wie ein Fall im letzten Monat zeigt: Ein Boot wurde nach Angaben Überlebender von der tunesischen Küstenwache gewaltsam gerammt. Drei Kinder ertranken durch diesen Angriff im Meer vor der tunesischen Stadt Chebba [1].
Die Verwandlung der tunesischen Route in einen maritimen Friedhof ist nicht nur auf die Praktiken von einer Handvoll böswilliger Küstenwächter zurückzuführen. Das Handeln ist Teil der ständigen Verschärfung der Kontrollen auf dieser Route, um die Zahl der Ankünfte an den italienischen Küsten um jeden Preis zu reduzieren. Zwischen 2011 und 2022 hat der italienische Staat 47 Millionen Euro an Tunesien für die Kontrolle der Grenzen und der Migrationsströme gegeben [2]. Der größte Teil dieses Geldes wurde für den Kauf und Unterhalt von Patrouillenboote für die tunesische Küstenwache ausgegeben. Diese Maßnahmen arbeiten mit dem bilateralen Rückübernahmeabkommen zusammen. Dieses erlaubt Italien bis zu vier Mal pro Woche tunesische Staatsangehörige auszuweisen.
Zusätzlich zu diesen Abkommen mit Italien ist Tunesien in ein Erpressungsspiel mit der Europäischen Union verwickelt, die das Land seit mehreren Jahren als Schlüsselakteur bei der Kontrolle der Überfahrten im Mittelmeer identifiziert hat. Nachdem Europa bereits Milizen finanziert, die an der libyschen Route patrouillieren und die Menschen in ein Land zurückbringen, aus dem sie verzweifelt zu fliehen versuchen, hat die EU Politik sich das Ziel gesetzt, auch die tunesische Route zu sperren. Zwischen 2018 und 2023 wurden Tunesien 30 Millionen Euro aus dem EU Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika bereitgestellt, um ein „integriertes Überwachungssystem“ für seine Seegrenzen zu finanzieren [3]. Die tunesische Nationale Seewache wird als Hauptbegünstigte dieses Projekts also direkt von der Europäischen Union ausgebildet, ausgerüstet und finanziert, trotz ihrer dokumentierten gewalttätigen Praktiken.
Diese italienische und europäische Unterstützung hat es Tunesien ermöglicht, die Zahl der Abfangaktionen vor seiner Küste erheblich zu erhöhen. Nach Angaben der FTDES wurden 30.604 Personen zwischen Januar und Oktober 2022 auf See aufgegriffen, was einem Anstieg von 38 % gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2021 und sechsmal mehr als 2018 bedeutet [4].
Zeitgleich nehmen die Angriffe der Küstenwache und die Zahl der Schiffbrüche weiter zu: Das ist offensichtlich der Preis, den die europäischen Länder bereit sind zu zahlen, um unerwünschte Menschen fern zu halten. Wir – die tunesische und die transnationale Zivilgesellschaft – werden weiterhin gemeinsam die gewalttätigen Praktiken, das repressive Mobilitätskontrollregime und die Verletzungen der Rechte auf See auf beiden Seiten des Mittelmeers dokumentieren, anprangern und bekämpfen, sowie die Externalisierungspolitik, die diese Praktiken ermöglicht und fördert.
[1] Giada Drocker, Una motovedetta tunisina ha inseguito una barca di migranti e provocato la morte di 3 bambini, Agi, 11. November 2022
[2] Matteo Garavoglia and Arianna Poletti, Tunisia, il muro della guardia costiera, Irpimedia, 2. November 2022
[3] Webseite von Statewatch: https://www.statewatch.org/media/3241/eu-council-pact-tunisia-action-plan-11392-21-rev2.pdf
[4] FTDES Report von Oktober 2022 über soziale Bewegung, Selbstmorde, Gewalt und Migration