Sea-Watch weist den durch Frontex erhobenen Vorwurf der direkten Unterstützung des Migranten-Schmuggels durch SAR-NGOs entschieden zurück. „Frontex selbst schafft das Geschäftsfeld für Schlepperei, weil die Grenzschutzagentur die Abschottungspolitik der EU umsetzt. Damit ist Frontex am Tod von über 5.000 Menschen an Europas Grenzen allein im Jahr 2016 mindestens mitschuldig“, sagt Axel Grafmanns, Geschäftsführer bei Sea-Watch. „Dass Frontex nun versucht, dies den zivilen Rettungskräften in die Schuhe zu schieben, ist schäbig. Eine Kriminalisierung derer, die helfen, wo die EU versagt scheint jedoch die Europäische Strategie im Superwahljahr 2017 zu werden.“
In einem Artikel der Financial Times ist vor wenigen Tagen ein wohl kalkulierter Vorwurf durch die Grenzschutzagentur Frontex lanciert worden: Den zivilen Seenotrettungsorganisationen wird unterstellt, Menschen-Schmugglern die Arbeit zu erleichtern, oder sogar direkt ihr Geschäftsmodell zu unterstützen. Argumentiert wird vordergründig nüchtern, dass durch die abnehmende Zahl der Notrufe von Schlauchbooten ein Beleg erbracht sei, die Schmuggler wüssten, wo sich die Schiffe der Rettungsorganisationen befinden. Somit könnten die völlig überladenen Flüchtlingsboote direkt dorthin dirigiert werden. Die Fahrten würden kürzer, das Geschäft lukrativer.
“Diese Argumentation blendet bewusst aus, warum NGOs eigentlich auf dem Meer sind. Dass es hierbei um die Rettung von Menschen in akuter Lebensgefahr geht wird ignoriert”, sagt Frank Dörner aus dem Sea-Watch Vorstand. “Wir suchen aktiv nach Booten, um Unfälle zu verhindern. So werden Boote häufig gefunden, bevor sie im Moment der Katastrophe einen Notruf absetzen. Außerdem wird unterschlagen, dass alle Organisationen hier eine Aufgabe übernehmen, die eigentlich durch die EU erfüllt werden müsste. Nämlich zu verhindern, dass Menschen beim Versuch nach Europa zu gelangen sterben, weil es für sie keine andere Möglichkeit gibt, sicher dorthin zu gelangen.”
Die Gefahr der zunehmenden Kriminalisierung der Flüchtenden und der Helfer ist real
Im Verlauf des Jahres 2016 haben wir beobachtet, dass sich die Schiffe der EU-Missionen zunehmend aus den akuten Rettungseinsätzen zurückgezogen haben. “Es gibt die Verpflichtung, im Falle eines Notrufes alles zu tun, um schnellstmöglich zu helfen. Trotzdem waren die besser ausgestatteten Schiffe des Militärs häufig nur Beobachter der zivilen Rettung”, so Dörner. Ein solcher Fall ereignete sich zum Beispiel am 25.09.2016, als ein Kriegsschiff lediglich aus der Distanz dabei zuschaute, wie die Sea-Watch 2 und die Astral der spanischen Organisation Pro Activa am Kapazitätslimit retteten. “Der Support der EU-Marine beschränkte sich auf 12 Flaschen Wasser sowie ein paar Kekse und auch die gab es nur nach mehrfacher Bitte um Unterstützung.” Argumentiert wurde damit, dass der Auftrag der Mission nicht primär Seenotrettung sei. “Es muss geprüft werden, in welchen Fällen hier gegen internationales Seerecht verstoßen wurde”, ergänzt Axel Grafmanns, Geschäftsführer von Sea-Watch.
Zudem bildet die Europäische Mission “Sophia“ die sogenannte Libysche Küstenwache aus, die nachweislich völkerrechtswidrige Rückführungen aus internationalen Gewässern durchführt. “Wir konnten in diesem Jahr mehrere Fälle dokumentieren, in denen die Libysche Küstenwache Boote aus internationalen Gewässern zurückgeschoben hat. Am 21. Oktober sind bei einem Übergriff auf einen unserer Rettungseinsätze mehr als 20 Menschen ums Leben gekommen”, sagt Grafmanns. “Die EU versucht rechtzeitig zum Superwahljahr 2017 ihre Grenzen dicht zu machen, dafür ist den Verantwortlichen jedes Mittel recht. Die zivilen Augen der Seenotrettungsorganisationen sind dabei ein Störfaktor.”
Der direkt hergestellte Bezug zwischen kriminellen Menschenhändlern und lebensrettenden Hilfsorganisationen durch Berichte, etwa von Frontex, oder die Argumentationskette des jüngsten Einsatzberichts der EU-Operation “Sophia” legen nahe, dass weitere rhetorische Angriffe auf die helfenden Organisationen zu erwarten sind. “Frontex fährt eine Strategie der Verunsicherung, die durch gerichtliche Verfahren, wie sie auch gegen Helfer in der Ägäis stattfinden, weiter geschürt wird. So wird die Gefahr für Flüchtende in der Zukunft weiter erhöht”, kommentiert Dörner.
2016 – Mare Mortum soll weiter abschrecken
Das Jahr 2016 war das tödlichste an Europas Grenzen, und ganz speziell auf dem Mittelmeer. “Aus dem Mare Nostrum, in dem durch die italienische Marine noch vor zwei Jahren zehntausende Menschen gerettet wurden, ist mittlerweile das Mare Mortum geworden. Und das obwohl es sich bei diesem Meer um den vermutlich best überwachten Bereich der Ozeane der Welt handelt!”, sagt Frank Dörner. “Es kann also nur politisches Kalkül dahinter stecken, wenn 2016 bis heute über 5000 Menschen auf dem Weg zu einem sicheren Hafen ertrunken sind oder vermisst werden.”
Sea-Watch wendet sich heute, da die Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens zunehmend in Frage gestellt werden, klar gegen die Kriminalisierung von Flüchtenden, egal warum sie ihr Land verlassen. Wir verlangen, dass Menschen nicht politischen Interessen geopfert werden und die Rettung aus Lebensgefahr nicht weiter verunglimpft werden darf. Gemeinsam mit allen anderen NGOs wird Sea-Watch weiterhin Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten und dafür kämpfen, dass sichere Wege ohne Repression für Flüchtende nach Europa umgesetzt werden. Denn nur so können weitere Tote verhindert werden!
Für Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung, Sie erreichen Pressesprecher Ruben Neugebauer per Mail an presse@sea-watch.org und per Telefon unter +4915773689421.