„Sie versuchen, die Zivilgesellschaft von geflüchteten Menschen fern zu halten. Das geschah jahrelang in Griechenland und wir wissen, was das bedeutet – ihnen kann alles Erdenkliche zustoßen und niemand wird es erfahren. Die Gesellschaft wird zu einer Gesellschaft, die ihre Augen verschließt. Es ist ein von den Behörden gespieltes Spiel mit der Absicht, die Solidaritätsbewegung außer Gefecht zu setzen“ (Efi Latsoudi- Lesvos Solidarity).
Im Herbst 2015 hatte Sea-Watch erstmals eine Seenotoperation mit Schnellbooten vor der Küste von Lesbos/Griechenland gestartet. In nur fünf Monaten konnten bis zu 4000 Menschen aus Seenot gerettet werden. Seit dem EU-Türkei-Deal im März 2016 gingen die Flüchtlingszahlen massiv zurück, sodass wir unser Engagement auf eine Beobachtung der Lage verlegten und unsere Rettungsboote in Stand-by versetzten. Inzwischen ist die Öffentlichkeit gefragt, die Umsetzung des Türkei-Deals kritisch zu begleiten – die mediale Aufmerksamkeit ist weitgehend geschwunden. Die gefährliche Fluchtroute von der Türkei nach Griechenland wird aber bis heute trotz des Deals genutzt. Weiterhin sterben regelmäßig Menschen bei ihrem Versuch, Griechenland zu erreichen.
Video: Die einzigen beiden Überlebenden von einem Schiffsunglück im April 2017
Unsere Mission
Wir wollen den medialen Blickwinkel wieder auf die Route Griechenland-Türkei richten. Denn mit dem EU-Türkei-Deal ist es nicht besser oder sicherer für geflüchtete Menschen geworden, im Gegenteil. Immer wieder werden die Lebensbedingungen in den griechischen Lagern und Hotspots kritisiert, erreichen aber nicht die benötigte Aufmerksamkeit, um die EU endlich zum Handeln zu bewegen.
Im Juli 2017 kehrte Sea-Watch deshalb mit seinem Flaggschiff der ersten Stunde zurück in die Ägäis, um die Aktivitäten mit der ‚Beobachtungsmission-Ägäis‘ entlang der Küsten der griechischen Inseln wiederaufzunehmen und von der akuten humanitären Lage an Europas unsichtbarer Mauer zu berichten. Die Sea-Watch 1 bietet Raum für eine Crew von bis zu 8 Personen und ist vollständig mit gängiger maritimer Kommunikationstechnologie ausgestattet. Unser Schiff dient als Basis für die Crew und als Plattform für Dokumentation und Beobachtung.
Über unser Netzwerk mit Aktivisten*innen und dem intensiven Austausch mit Hilfsorganisationen erreichten uns in den vergangenen Monaten immer wieder erschütternde Nachrichten, insbesondere aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos (Moria und Kara Tepe) und Chios (Vial und Souda). Die völlig überfüllten Lager entwickeln sich mehr und mehr zu Gefängnissen, in denen Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen und katastrophaler Versorgung bis zu 16 Monate leben müssen oder willkürlich inhaftiert werden. Die Anzahl an psychisch kranken Menschen ist massiv, Selbstmorde sind neben Hungerstreiks oft der einzige Weg, mit der Verzweiflung umzugehen.
„Wir kamen nach Europa um Schutz zu suchen, aber Europa lehnt uns ab und steckt uns ins Gefängnis. Flüchtende sind keine Kriminellen“ (Arash Hampay, Flüchtender aus dem Iran).
Im Juli 2017 führten diese Zustände im Camp Moria erneut zu friedlichen Protesten, die von der Polizei gewaltsam und unter Einsatz von Tränengas niedergeschlagen wurden. „Hätte ich gewusst, was mich und meine Familie in Griechenland erwartet, dann wären wir lieber in Syrien gestorben“, berichtete kürzlich ein syrischer Familienvater.
Auf den Inseln sind Polizei und Militär im Einsatz, deren Anzahl in den vergangenen Monaten verstärkt wurde, um die Festung Europa weiter auszubauen. Flüchtende werden nicht auf das griechische Festland und in Lager mit freien Kapazitäten gebracht, bevor ihr Antrag auf Asyl auf den Inseln bearbeitet wurde. Diese Situation verschlimmert das Leid der Menschen von Tag zu Tag, da die Zahl der ankommenden Boote auch trotz des Deals nicht abreißt.
Auf dem Meer zeichnet sich ein ähnliches Bild. Flüchtende erzählen davon, wie die Küstenwachen versuchen, Boote zum Kentern zu bringen, um die Menschen auf Ihrem gefährlichen Weg über das Meer einzuschüchtern. Mittlerweile ist die Küste der Europäischen Union militarisiert wie nie zuvor. Kriegsschiffe der NATO und Frontex-Einheiten patrouillieren neben der griechischen und türkischen Küstenwache, wobei Augenzeugen immer wieder von Push-backs berichten.
Seit geraumer Zeit wird insbesondere die Arbeit der Hilfsorganisationen auf und am Wasser durch griechische Behörden und Küstenwachen stark und behindert, obwohl deren Unterstützung in der Seenotrettung unumgänglich ist. Die Hilfsorganisationen dürfen nicht auf eigene Faust operieren oder Boote in Seenot retten, ohne um Erlaubnis der Küstenwache zu fragen. Auch hat die Anzahl von Übergriffen aus der rechten Szene (Golden Dawn- Goldene Morgendämmerung) auf Flüchtlingscamps und freiwillige Helfer der Hilfsorganisationen zugenommen.Es ist eine Systematik zu erkennen, die zu verstehen gibt, dass ein echtes Interesse darin besteht, alle Zeugen zu beseitigen, die die Geschehnisse auf See mitverfolgen.
Diese humanitäre Lage an Land und auf See spitzt sich kontinuierlich weiter zu und aus diesem Grund ist Sea-Watch zurück in der Ägäis, um die heftigen Auswirkungen des 2016 geschlossenen Deals zwischen der Türkei und der EU zu beleuchten, dessen Auswirkungen auf Menschenrechte zu dokumentieren und diese in die Öffentlichkeit bringen.
Mit Hilfe unserer Partner vor Ort ist es unser Ziel, die Situation für Geflüchtete an Land und auf dem Meer zu verbessern. Die Rettung auf See wird in der Ägäis vor allem durch Frontex und die griechische Küstenwache veranlasst. Deren erfolgreiche Arbeit interessiert uns gleichermaßen wie die Fälle, die humanitäre Standards verletzen. Denn nur eine aktive und präsente Zivilgesellschaft stellt sicher, dass Menschenrechte eingehalten und Missstände aufgedeckt werden.
Zudem möchten wir einen Dialog mit den staatlichen Rettern auf Augenhöhe führen, um Verbesserungen in der Rettung anzustoßen, und nach Möglichkeiten zu suchen, die größtenteils menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern der Geflüchteten auf den Inseln zu verbessern. Die „Beobachtungsmission-Ägäis“ soll neben dem Blick auf das Handeln beteiligter Instanzen und die unsichtbare Mauer der EU auch dafür sorgen, die Projekte und Initiativen von Freiwilligen, Einheimischen und Hilfsorganisationen zu unterstützen, die sich unermüdlich für die Menschlichkeit engagieren.