Obwohl Sea-Watch und andere zivile Retter im Dauereinsatz täglich Hunderte von Flüchtenden aus Seenot retten, ist es gestern zu einem Bootsunglück mit mehreren Toten gekommen. Sea-Watch sieht die gestrige Tragödie in einem Zusammenhang mit den bereits am 29. November zwischen der EU und der Türkei vereinbarten Abschottungsmaßnahmen: Seit die Türkei Küstenabschnitte, von denen in der Vergangenheit viele Flüchtende gestartet sind, im Zuge der Vereinbarung mit der Europäischen Union stärker überwacht, müssen Menschen auf der Flucht nach Europa noch höhere Risiken eingehen.
Bereits am Morgen der Katastrophe vom 16. Dezember hatte Sea-Watch in Zusammenarbeit mit anderen ehrenamtlichen Rettungskräften über 50 Flüchtende von einem sinkenden Schlauchboot gerettet. “Wir haben mindestens zwölf Kinder und eine schwangere Frau zu uns aufs Boot geholt.”, sagt Ruby Hartbrich, Medizinerin an Bord des Sea-Watch-Einsatzbootes vor Lesbos. “Das Boot war bereits mit Wasser vollgelaufen, sodass die Menschen dringend evakuiert werden mussten. Es war sogar ein Neugeborenes dabei, höchstens eine Woche alt.”, so Hartbrich. Dank der Anwesenheit ziviler Rettungskräfte, darunter Sea-Watch, ging bei der ersten Rettung alles gut. Bereits am Nachmittag musste die Sea-Watch-Crew erneut zur Unterstützung anderer Rettungskräfte ausrücken. Vor dem Strand von Eftalou, im Norden von Lesbos, war ein überladenes Holzboot gekentert. “Wir sind durch ein Trümmerfeld aus Bootsteilen und Schwimmwesten gefahren.”, erzählt die 26-jährige Medizinstudentin. “83 Menschen konnten aus dem Wasser gerettet werden, darunter viele Frauen und Kinder. Sie waren völlig traumatisiert, als sie an Land gebracht wurden.” Für andere kam jede Hilfe zu spät: “Zwei Tote wurden bereits geborgen, die anderen Opfer werden vielleicht in den nächsten Tagen angespült.”, so Hartbrich.
“Heute, während die EU beschlossen hat, die Einreise über das Mittelmeer noch weiter zu erschweren und zu kontrollieren, haben wir Kinderschwimmwesten und Baybfläschchen zwischen den hohen Wellen vor Lesbos schwimmen sehen. Bei einem weiteren tragischen Bootsunfall starben heute mindestens zwei Flüchtende in unmittelbarer Nähe der griechischen Insel Lesbos. Der Entschluss des Gipfels zwischen der EU und der Türkei vor drei Wochen hat zu einer Verschärfung der Lage an den Wassergrenzen Europas geführt. Die Menschen werden gezwungen, noch gefährlichere und längere Routen mit ihren Booten zu wählen. Trotzdem kommen nicht weniger.”, sagt Giorgia Linardi, die derzeit den Sea-Watch Lesboseinsatz koordiniert. Im Winter müssen Menschen in Not sofort gerettet werden, da ein hohes Risiko besteht, dass sie an Unterkühlung sterben. Sea-Watch hat deshalb gemeinsam mit anderen Freiwilligen im Norden von Lesbos, wo bisher die Hauptroute nach Griechenland verlief, eine permanent einsatzbereite Rettungskette aufgebaut, ohne die es heute ohne Zweifel weit mehr Tote gegeben hätte. Durch den EU-Türkei-Deal kommen Flüchtende allerdings immer öfter an anderen Orten in Griechenland an, wo es keine Retter gibt. “Für NGOs und Rettungsinitiativen ist es sehr schwierig, sich darauf einzustellen.”, so Linardi. “Es ist lediglich die Zivilgesellschaft, die sich tatsächlich dafür einsetzt, Fluchtrouten sicherer zu machen und die hier große Erfolge verzeichnen kann. Die EU unterstützt dabei kaum, ganz im Gegenteil, mit Maßnahmen wie dem EU-Türkei-Deal provoziert sie weitere Tote. Gerade jetzt im Winter, wo die Überfahrt ohnehin gefährlicher ist, sollte jede zusätzliche Erschwerung für die Flüchtenden vermieden werden. Die EU jedoch macht genau das Gegenteil und riskiert damit wissentlich Tote, ohne einen nennenswerten positiven Effekt zu erzielen.” Nach wie vor machen sich täglich viele Boote auf den Weg, auch bei schlechten Wetterbedingungen. Das macht Organisationen wie Sea-Watch dringend notwendig, um Tote zu verhindern. ”Zusätzlich wird der Schleppermarkt noch gefördert. Wir beobachten ähnliche Entwicklungen wie in Libyen. Die Boote werden nun heimlich nachts bestiegen und erfahren keinerlei Unterstützung. Alles in allem ist eine Prognose für die Zukunft sehr schwierig. Was wir sehen, ist eine gleichbleibend menschenunwürdige Politik, die Menschen dazu zwingt, sich auf eine lebensbedrohliche Überfahrt zu begeben.”
“Grenzsicherung ist da das völlig falsche Wort.”, sagt Sea-Watch-Initiator Harald Höppner. “Das ist doch Etikettenschwindel! Die EU macht ihre Grenzen mit jedem Meter Stacheldraht nicht sicherer, sondern gefährlicher, weil sie Flüchtenden jede sichere Route verweigert und die Menschen so darauf angewiesen sind, den gefährlichen Seeweg zu wählen. Wir sind für diese Toten mindestens mitverantwortlich. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn an unseren Stränden Tote angespült werden. Wäre vor Lesbos heute ein Touristenschiff mit deutschen Urlaubern gekentert, gäbe es jetzt vermutlich Sondersendungen. Doch auch an den Tod der Flüchtenden dürfen wir uns nicht gewöhnen! Leider sieht es nicht so aus, als würde die EU ihrer Verantwortung demnächst gerecht werden und dafür sorgen, dass niemand mehr an ihren Grenzen sterben muss. Die Katastrophe vom 16. Dezember zeigt, wie dringend Initiativen wie Sea-Watch auf dem Mittelmeer gebraucht werden. Um weiter täglich Menschen vor dem Ertrinken retten zu können, sind wir allerdings auf Spenden angewiesen.”, sagt Höppner. Zur Finanzierung eines neuen Schiffs sowie der Einsatzkosten für 2016 läuft derzeit ein Crowdfunding. (www.sea-watch.org/sea-watch2)
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