Nachdem wir im September über die Situation auf den anderen Inseln in der Ägäis berichtet haben, haben wir im Oktober unsere Arbeit auf Lesbos fortgesetzt.
Um die unmenschlichen Zustände in den Hotspots zu dokumentieren und auf die völlige Untätigkeit der griechischen Regierung im Angesicht des nahenden Winters aufmerksam zu machen, haben wir die Kampagne #ALifeInDignity gestartet. Auf dem Sea-Watch-blog Monitoring Moria findet ihr alle Informationen zur Situation vor Ort. Die Entscheidungsträger in Griechenland und in der EU müssen sich endlich ihrer Verantwortung stellen. Gemeinsam mit über 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir daher einen Aufruf an die griechische Regierung veröffentlicht: Wir fordern eine Umsiedlung der Menschen von den Inseln auf das Festland, #opentheislands! Unser Appell richtet sich aber nicht nur an die griechischen Behörden – die Krise auf den Inseln ist eine europäische Angelegenheit. Unsere Dokumentation soll deshalb auch Journalist*innen als Grundlage für eine Berichterstattung dienen.
Unser Hauptaugenmerk lag weiterhin auf der Situation auf See. Dies ist auch dringend nötig, da sich die staatlichen Akteure auf See, im Gegensatz zum Land, jeglicher zivilgesellschaftlicher Beobachtung weitgehend entzogen haben. Rettungsorganisationen dürfen schon lange nicht mehr frei vor der Küste patrouillieren, alle Ausfahrten müssen 24 Stunden vorher genehmigt werden und die Zusammenarbeit mit der Griechischen Küstenwache (HCG) ist oft ein Balanceakt. Aufgrund der eingeschränkten Operationsmöglichkeiten hat nun mit ProActiva Open Arms eine weitere NGO ihren endgültigen Rückzug aus der Ägäis bekannt gegeben. Damit verbleibt auf Lesbos nur noch eine Nichtregierungsorganisation für die Seenotrettung, nämlich Refugee Rescue. Sea-Watch 1 Kapitän Philipp Hahn sagt: „Die Zivilgesellschaft muss genau hinsehen, wenn Nato-Kriegsschiffe und Frontex-Einheiten eine humanitäre Krise handhaben sollen. Die Präsenz eines unabhängigen, zivilgesellschaftlichen Akteurs ist dringend nötig.“
In den ersten Oktoberwochen haben wir besonders die Situation an der Nordküste von Lesbos beobachtet. Im Logbuch der Einsatzleiterin steht: „09. Oktober. Momentan kommen hier jede Nacht 1-2 Boote an, häufig auch bei schlechtem Wetter. Wir sind daher jede Nacht im Monitoring-Einsatz. Wir nutzen unser Netzwerk von lokalen Akteuren an Land, und unsere Position auf See um so schnell wie möglich auf Informationen über Bewegungen auf See zu reagieren. Falls ein Boot gesichtet wird oder wir verdächtiges Verhalten von Frontex, HCG oder Türkischen Küstenwache beobachten machen wir uns sofort mit unserem Schnellboot auf den Weg. Mit dem eingespielten Team sind wir in wenigen Minuten auf dem Wasser. Zusätzlich versuchen wir, soweit es das Wetter und die kleine Crew zulässt, jede Nacht einige Stunden auf der Hauptroute in der Nähe der Frontex/HCG Schiffe präsent zu sein. Da sich die Zeiten und Routen für Überfahrten ständig ändern, unsere Spotting-Möglichkeiten nicht mit denen der NATO Schiffe mithalten können, und wir auch nicht 24/7 vor Ort sein können, gehört viel Geduld und natürlich ein bisschen Glück dazu um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Wir bleiben beharrlich und zeigen so viel Präsenz wie möglich – damit signalisieren wir den offiziellen Akteuren: ‚Wir sind hier, wir sehen was ihr macht!’“
Das Ziel der Monitoring Mission ist es, Fehlverhalten wie zum Beispiel Push-Backs und gefährliche Manöver zu verhindern und zu dokumentieren. Im besten Fall führt unsere Präsenz dazu, dass die Küstenwache und Frontex sich an die Regeln halten, ihren Job gut machen und Flüchtende sicher an Land bringen.
Seit unser Ankunft im Norden haben wir fünf Bergungen durch das portugiesische Frontex Schiff ARADE, das Bulgarische Frontex Schiff ПОМОРИЕ und die HCG begleitet. Zusätzlich haben wir gemeinsam mit ProActiva und Refugee Rescue an zwei Suchaktionen teilgenommen. Aus dem Erlebten lassen sich einige Rückschlüsse über die Auswirkungen des EU-Türkei Deals auf die Situation von Geflüchteten auf See ziehen.
Erstens: Die Seenotrettung wurde zunehmend militarisiert. Frontex und HCG patrouillieren mit Polizei- und Militärschiffen, die nicht für die Seenotrettung, sondern für den Grenzschutz gedacht sind. Statt eines Schnellboots, das auch in direkter Nähe der felsigen Strände operieren kann, haben die Schiffe ein großkalibriges Waffensystem an Bord. Zivile Retter*innen werden als nötiges Übel geduldet und operieren unter sehr strikten Auflagen. Der Informationsfluss ist häufig schleppend und NGO-Unterstützung wird erst spät oder gar nicht angefordert. So beobachteten wir in der Nacht vom 4. Oktober, wie ein Flüchtlingsboot von Norden her auf den Leuchtturm von Korakas zusteuerte. Die Küste hier ist gefährlich, steil und felsig. Die HCG lehnte die angebotene Unterstützung durch ProActiva und Refugee Rescue ab, daher nahmen wir an, dass sie die Menschen bereits an Bord genommen hatten. Nur durch die NGO Spotter haben wir später erfahren, dass sich das Flüchtlingsboot weiterhin in Fahrt befand und wenig später am – zum Glück relativ sicheren Strand – westlich von Korakas anlanden konnte. Während der ganzen Zeit blieb die Hellenic Coast Guard mehrere hundert Meter vor der Küste – offizielle Kommunikation über die Lage gibt es keine. Durch die kurze Entfernung zu Skala schaffte es das Landing Team gerade noch rechtzeitig am Strand zu sein, und die Geflüchteten sicher in Empfang zu nehmen. Effektive Zusammenarbeit zum Wohle der Flüchtenden sieht anders aus.
Zweitens: Viele Flüchtende haben enorme Angst vor Push-Backs und Interceptions durch die offiziellen Akteure, was dazu führt, dass sie sich immer wieder erhöhter Gefahr aussetzen. Schlauchboote versuchen durch gefährliche Manöver vor Frontex und der HCG zu fliehen. Statt sich sicher in den Hafen bringen zu lassen, landen sie an der gefährlichen und schwer zugänglichen Küste an. Im schlimmsten Fall, wie in unserer ersten Nacht vor Skala, springen Menschen bei Annährung eines offiziellen Schiffes vor Panik ins Wasser und versuchen schwimmend die Küste zu erreichen. Die Angst der Flüchtenden ist nicht unbegründet. Viele berichten uns, dass sie bis zu sechs Versuche unternommen haben, bevor sie es in den sicheren Hafen geschafft haben. Wenn die türkischen Behörden Schlauchboote abfangen, droht den Passagieren Inhaftierung im Gefängnis oder in Abschiebecamps.
Doch selbst die Menschen, die es nach Griechenland schaffen, finden in Europa keine Zuflucht vor Gewalt und Elend. Die Situation der Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln ist verheerend. Es mangelt an grundlegendster, menschenwürdiger Versorgung. Weder der Regierung, noch dem UNHCR gelingt es, den Menschen den Schutz zu bieten, den sie so dringend benötigen. Nach Monaten in menschenunwürdigen Zuständen auf den griechischen Inseln steht ihnen die Abschiebung in die Türkei in Aussicht. Dort haben sie kein Recht auf vollständigen Schutz unter der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Abschiebung von Geflüchteten ohne eine Anhörung verstößt gegen das Völkerrecht. Damit verletzt der EU-Türkei Deal das Menschenrecht auf Asyl und Non-Refoulement.
Im September ertranken 46 Mensch in der Ägäis. Erst heute morgen kam es vor Chios zu einem Bootsunglück mit drei Todesopfern. Jeder dieser Toten ist einer zu viel. Kein Mensch, der vor Krieg und Verfolgung flieht, sollte auf der Suche nach Zuflucht und Sicherheit, sein Leben riskieren müssen. Wir fordern daher legale und sichere Einreisewege und ein Ende des EU-Türkei Deals.
Eine Übersicht über unsere Arbeit in der Ägäis findet ihr in unserer interaktiven Landkarte.
Besonders drastisch sind die Zustände im HotSpot Moria: https://sea-watch.org/en/monitoring-moria
#monitoringdirtydeals
#MenschenrechteKeineKompromisse