Es weht ein anderer Wind an Europas Seegrenzen. Die Beschlagnahmung des Rettungsschiffs ‚IUVENTA‘ schien der Höhepunkt der Eskalation um die Mittelmeerroute zu sein – bis Libyen vergangene Woche angedroht hat, Rettungsaktionen von NGOs vor der eigenen Küste mit Gewalt zu verhindern. Mehrere zivile Seenotretter haben daraufhin ihre Einsätze gestoppt, darunter auch Ärzte ohne Grenzen. Klar ist, dass diese Entwicklungen Menschen auf der Flucht einer größeren Gefahr aussetzen.
Völkerrechtlerin Nora Markard ist Junior-Professorin an der Universität Hamburg, wo sie auch die Humboldt Law Clinic ‚Grund- und Menschenrechte‘ leitet. Im Sea-Watch Interview erklärt die Expertin die rechtlichen Hintergründe der aktuellen Debatte um die Seenotrettung im Mittelmeer.
Der Titel Ihrer Dissertation ist „Kriegsflüchtlinge“ – haben alle Insassen eines Schlauchboots in Seenot das Recht, nach Europa gebracht zu werden, oder trifft das nur auf Menschen zu, die Aussicht auf einen Asylstatus in Europa haben?
Die Frage, wo Gerettete abgesetzt werden müssen, spricht zwei verschiedene Rechtsregime an. Das eine ist das Regime des sogenannten internationalen Schutzes. Darunter fällt der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 [GFK] ebenso wie der menschenrechtliche Abschiebungsschutz in Europa nach der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK]. Das andere ist das seerechtliche Regime.
Nach Seevölkerrecht müssen Schiffe, die Menschen aus Seenot gerettet haben, diese an einen “sicheren Ort” bringen. Ein solcher sicherer Ort ist dadurch gekennzeichnet, dass dort die Sicherheit und das Leben der Geretteten nicht mehr in Gefahr sind. Ein Abfahrtsstaat kann auf keinen Fall als sicherer Ort gelten, dort wo Verfolgung, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, oder wenn die Geretteten dort nicht adäquat versorgt werden können.
Das heißt, man darf niemanden nach Libyen zurückbringen, weil es dort keinen Rechtsstaat gibt, der solche Verstöße ahnden könnte…
Die GFK und die EMRK verbieten das sogenannte Refoulement. Nach der GFK darf ein Flüchtling nicht durch Abschiebung in seinen Heimatstaat der Verfolgung ausgesetzt werden, auch nicht über den Umweg der “Kettenabschiebung” aus einem anderen Staat. Nach der EMRK ist die Abschiebung in jedes Land verboten, in dem einer Person – Flüchtling oder nicht – schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen, also unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Folter. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass die EMRK-Staaten – dazu gehören alle EU-Mitgliedstaaten – auch auf Hoher See an die EMRK gebunden sind. Außerdem haben Personen, die plausibel vortragen, im Zielstaat in Gefahr zu sein, ein Recht auf ein angemessenes Verfahren zur Prüfung ihrer Ansprüche mit entsprechenden Rechtsschutzmöglichkeiten. Das geht in der Regel nicht auf einem Schiff; meist müssen sie also nach Europa gebracht werden, um eingehend zu prüfen, ob und wenn, wo sie sonst hingebracht werden dürfen.
Ein Staat darf also nach der Rettung aus Seenot die Überlebenden zum Beispiel nicht nach Libyen bringen, weil das ein nach Artikel 3 EMRK verbotenes Refoulement wäre. Denn dort drohen Flüchtlingen und anderen Schutzsuchenden nach NGO-Berichten schwerste Misshandlungen bis hin zur Folter. Auch bei anderen Zielstaaten muss er plausible Schutzgründe sorgfältig prüfen und gegebenenfalls Asyl oder menschenrechtlichen bzw. subsidiären Schutz gewähren. Viele der Bootsflüchtlinge sind in der Tat Flüchtlinge im Rechtssinne oder haben Anspruch auf subsidiären Schutz.
Die Bundesregierung unterstützt den EU-Beschluss zur Finanzierung und Ausbildung der sogenannten Libyschen Küstenwache, die immer wieder völkerrechtswidrige Rückführungen von Flüchtlingsbooten durchführt. Inwiefern macht sich die Bundesregierung dadurch mitschuldig?
Grundsätzlich ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn die libysche Küstenwache darin ausgebildet wird, höhere Standards einzuhalten und keine Menschenrechte mehr zu verletzen. Aber diese Kooperation ist insofern extrem bedenklich, als die Küstenwache aktiv an der Seenotrettung im Mittelmeer beteiligt werden soll, damit die EU-Mitgliedstaaten ihre eigenen Verpflichtungen aus der GFK und der EMRK umgehen können. Wenn die EU-Mitgliedstaaten die libysche Küstenwache bei der derzeitigen Situation in Libyen aktiv in Rettungsaktionen einbindet, in dem Wissen dass die Geretteten daraufhin schwerste Menschenrechtsverletzungen zu befürchten haben, dann machen sie sich daran mitschuldig.
Italien verhandelt mit Libyen ein bilaterales Abkommen, bei dem künftig auch die italienische Marine bei der Rückführung von Booten innerhalb der 12 Seemeilen Zone helfen soll. Anders als Libyen hat Italien die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert. Verstößt das geplante Abkommen also nicht gegen internationales Recht?
Italien ist auch in den libyschen Küstengewässern an Völkerrecht gebunden, selbst wenn die italienische Marine nur die libysche Küstenwache unterstützt. Werden hier Boote davon abgehalten, die Küste zu verlassen, wird das Menschenrecht auf Ausreise verletzt. Daran beteiligt sich Italien dann in völkerrechtswidriger Weise. Werden Boote, die bereits ausgereist sind, zurückgebracht, ist das eine Verletzung des Refoulementverbots. Ein bilaterales Abkommen ändert daran nichts.
Wie ist es möglich, angesichts einer unsicheren Rechtslage, zum Beispiel bei Pullbacks durch die Libysche Küstenwache, trotzdem Menschenrechte geltend zu machen?
Sobald EMRK-Staaten beteiligt sind, können die Betroffenen sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Schwieriger wird es, wenn die europäischen Staaten keine direkte Hoheitsgewalt ausüben, sondern nur noch die libysche Küstenwache aktiv wird. Der Gerichtshof hat sich bisher nicht dazu geäußert, ob er das allgemeine Verbot der Beihilfe zu Völkerrechtsverletzungen im Rahmen der EMRK anerkennt. Immerhin ist diese ein spezielles Regime mit eigenen Anwendungsvoraussetzungen. Das wäre spannend zu klären. Verletzungen des Rechts auf Ausreise könnten zum Beispiel vor dem UN-Menschenrechtsausschuss geklärt werden, der den UN-Zivilpakt überwacht. Dort ist auch das Menschenrecht geschützt, jedes Land zu verlassen, einschließlich des eigenen. Die EU-Ombudsperson und die EU-Grundrechteagentur haben ebenfalls ein Auge auf die Menschenrechtslage an der Grenze.
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist gerade 66 Jahre alt geworden. Zurzeit sind mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor. Brauchen wir eine Reform des internationalen Rechts, um diesen Herausforderungen auch juristisch gerecht zu werden?
Ich bin überzeugt, dass wir keine Reform der Genfer Konvention brauchen. Sie ist ohne weiteres in der Lage, in sich wandelnden Verhältnissen kontinuierlich Schutz zu gewähren. Das hat sich in den vergangenen 66 Jahren gezeigt, zum Beispiel durch die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung oder den Schutz von Homosexuellen. Die GFK ist ein Nachkriegsinstrument. Es ist keineswegs so, dass Situationen der Massenflucht 1951 nicht denkbar waren. Was wir allerdings brauchen, ist ein Mechanismus der internationalen Verantwortungsteilung. Dies wird in der Präambel der Flüchtlingskonvention nur angedeutet, aber nicht näher ausgeführt. Es wird sich zeigen, ob der geplante Global Compact der Vereinten Nationen einen solchen Mechanismus jedenfalls politisch verbindlich machen kann. Ohne einen solchen Mechanismus bleibt es bei der extremen Überlastung der Staaten in der Region. Immerhin bleiben 80 Prozent aller Flüchtlinge weltweit in der Nähe ihrer Heimat.
In Italien wird gerade mit neuen Rechtsformen experimentiert, wie zum Beispiel mit dem Code of Conduct, der nur einigen Schiffen im Mittelmeer zusätzlich zu Seerecht und internationalem Recht auferlegt werden sollte. Unter welchen Umständen darf Italien die Hafeneinfahrt verweigern, wie in den Verhandlungen zum Verhaltenskodex angedroht?
Ein Land darf die Hafeneinfahrt mit Geretteten nicht ohne weiteres verweigern, weil es seine eigenen Regeln aufgestellt hat – maßgeblich ist allein das Völkerrecht. Wenn ein Staat nach Seevölkerrecht für die Rettung zuständig ist, kann er sich nicht auf selbstgezimmerte Codes of Conduct berufen, um seinen Verpflichtungen zu entgehen.
Das Gespräch führte Theresa Leisgang
Fotos: Sea-Watch / Steffen Weigelt