FAQ – Häufige Fragen

Sea-Watch hat sich als zivile Seenotrettungsorganisation als Reaktion auf das willentliche Versagen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gegründet. Seit 2014 sind nach offiziellen Zahlen über 30.000 Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer gestorben.1 Um Schutz in Europa zu finden und um ihr Recht auf ein Asylverfahren wahrzunehmen, sind Menschen gezwungen, in seeuntauglichen Booten das Mittelmeer zu überqueren. Statt Seenotrettung staatlich zu organisieren und das Retten von Leben zu gewährleisten, schottet sich die Europäische Union weiter ab und lässt Menschen kalkuliert im Mittelmeer ertrinken. Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Sea-Watch fordert sichere und legale Einreisewege und Bewegungsfreiheit für alle. Kein Mensch darf bei dem Versuch, Grenzen zu überqueren, sterben.

1 IOM Data Sheet https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean, abgerufen am 30.10.2024.

Sea-Watch ist ein 2015 gegründeter und in Deutschland gemeinnützig anerkannter Verein. Unsere Arbeit finanziert sich zu 100 % aus Spenden sowie dem Verkauf von Merchandise-Artikeln. Unser Projektbericht mit einer detaillierten Einnahmen- und Ausgabenübersicht ist öffentlich einsehbar.

Der Großteil der Spenden fließt in den Betrieb unserer Schiffe und unserer Aufklärungsflugzeuge. Unsere Crews an Bord der Schiffe arbeiten zum Teil ehrenamtlich, einige Positionen sind mittlerweile jedoch fest besetzt, da wir eine gewisse Kontinuität sicherstellen müssen und z.B. zuverlässige Nautiker:innen brauchen, welche die Maschinen und die Schiffe sehr gut kennen. Das Gleiche gilt für unsere Luft-Crew, die aus einigen hauptamtlichen Team-Mitgliedern und vielen Ehrenamtlichen besteht. Zudem gibt es an Land ein wachsendes Team an festangestellten Personen, die gewährleisten, dass wir kontinuierlich und nachhaltig arbeiten können.

2023 flossen 81,92 Prozent unserer Ausgaben in Projekte im Sinne unserer Vereinssatzung. 18,08 Prozent unserer Ausgaben flossen in den nicht-operativen Bereich, darunter fallen Organisationskoordination, die Gewinnung und Betreuung von Spender:innen, sowie IT und Finanzen.

Weltweit sind rund 110 Millionen Menschen auf der Flucht. Fast die Hälfte von ihnen, 62,5 Millionen, suchen als Binnenvertriebene Zuflucht innerhalb ihres Herkunftslandes.2

Ein Bruchteil der weltweit fliehenden Menschen sucht und findet seinen Weg nach Europa. In der Europäischen Union leben rund 450 Millionen Einwohner:innen. Die ankommenden, schutzsuchenden Menschen stellen somit einen kleinen Prozentsatz der in der EU lebenden Personen dar.

Seit 2015 sind nach offiziellen Zahlen knapp 2,5 Millionen Menschen über den Seeweg in Europa angekommen.3 Dies umfasst die westliche, zentrale und östliche Mittelmeerroute nach Spanien, Italien, Malta bzw. Griechenland und Zypern. Wie viele Menschen den Weg über das Mittelmeer antreten, ist statistisch nicht erfasst.

2 https://www.unhcr.org/refugee-statistics/, zuletzt abgerufen 31.05.2024
3 https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean, zuletzt abgerufen 31.05.2024

Zivile Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer operieren in internationalen Gewässern nördlich von Libyen. Die hoheitlichen Küstengewässer dehnen sich bis 12 Seemeilen vor der Küste eines Staates aus. Dahinter befindet sich die sogenannte Anschlusszone bis 24 Seemeilen, in der der Anrainerstaat über gewisse Rechte z.B. die Strafverfolgung verfügt. Unsere Rettungen finden außerhalb der libyschen Gewässer und in der Regel außerhalb dieser Anschlusszone statt.

„No one puts their children on a boat unless the water is safer than the land.”5

Das Gedicht der britisch-somalischen Dichterin Warsan Shire spricht eine deutliche Sprache: Menschen riskieren diese lebensgefährliche Überfahrt, weil sie keine andere Wahl haben. Sie befinden sich in einer akuten Notsituation, fliehen vor Kriegen, Verfolgung und Armut.

Die Frage spielt auf das etablierte Scheinargument des mehrfach widerlegten sogenannten Pull-Faktors an.6 Demnach hätte die Präsenz von Rettungsschiffen Einfluss auf die Anzahl der ablegenden Boote, beispielsweise von Libyen aus. Studien von unter anderem der Oxford University, dem Migration Policy Centre sowie der International Organization for Migration (IOM) belegen jedoch seit Jahren, dass keinerlei Zusammenhang zwischen der Präsenz von NGO-Schiffen und der Anzahl ablegender Boote aus Libyen existiert.

Wir werden nicht müde, immer wieder zu betonen: Mehr Schiffe bedeuten nicht mehr Boote. Wohl aber bedeuten weniger Schiffe mehr Tote. Wir verurteilen die menschenverachtende Forderung, Menschen auf der Flucht zur Abschreckung anderer ertrinken zu lassen, aufs Schärfste.

5 Warsan Shire 2015: Home, http://seekershub.org/blog/2015/09/home-warsan-shire/ (zuletzt abgerufen am 11.06.2024).

6 Siehe hierzu: Cusumano, E., & Villa, M. 2020: Over troubled waters: maritime rescue operations in the central Mediterranean, verfügbar unter: https://publications.iom.int/books/migration-west-and-north-africa-and-across-mediterranean-chapter-16 (zuletzt abgerufen am 11.06.2024)

Cusumano, E., & Villa, M. 2019: Sea rescue NGOs : a pull factor of irregular migration?, verfügbar unter: https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/65024/PB_2019_22_MPC.pdf?sequence=5 (zuletzt abgerufen am 11.06.2024)

Steinhilper, E. and Gruijters, R. 2017: Border Deaths in the Mediterranean: What We Can Learn from the Latest Data, verfügbar unter: https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2017/03/institutional (zuletzt abgerufen am 11.06.2024).

Die Schlauch-, Holz- und Metallboote, denen wir im zentralen Mittelmeer begegnen, erfüllen bereits unmittelbar nach Verlassen der Küste alle Kriterien, die laut dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages einen Seenotfall definieren. In dem Gutachten heißt es: „Generell wird von Seenot gesprochen, wenn die begründete Annahme besteht, dass ein Schiff und die auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen. Hierzu gehören etwa eine Manövrierunfähigkeit des Schiffes, ein Mangel an Bordrettungsmitteln, eine die Gesundheit der Passagiere oder die Sicherheit des Schiffes gefährdende Überbelegung oder eine mangelnde Versorgung der Passagiere mit Nahrung, Trinkwasser und notwendigen Medikamenten.“7

Den seeuntauglichen Zustand der Boote können wir sowohl vom Wasser als auch von der Luft aus unverzüglich erkennen und uns bleibt keine andere Handlungsoption als sofortige Hilfestellung – sowohl aus rechtlicher als auch menschlicher Perspektive.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie wir von einem Seenotfall erfahren:

Ein Fall ist die Meldung eines Bootes in Seenot durch die zuständigen staatlichen Behörden wie der italienischen Seenotrettungsleitstelle (Italian Maritime Rescue Coordination Center, kurz MRCC Rom) in Rom oder der maltesischen Seenotrettungsleitstelle (Maltese Rescue Coordination Center, kurz RCC Malta). Nach erfolgter Information und Koordination durch den zuständigen Staat (Italien oder Malta) machen wir uns auf den Weg zur gemeldeten Stelle und übernehmen die Rettung der Menschen.

Leider kommen Staaten ihrer Verpflichtung zur Koordinierung immer seltener nach. Somit ist es umso essenzieller, dass Menschen in Seenot durch den unermüdlichen Einsatz der Zivilgesellschaft dennoch aufgespürt und unterstützt werden. Dies passiert vor allem Dank der Arbeit der Initiative Watch the Med – Alarm Phone und den Einsätzen unserer Aufklärungsflugzeuge Seabird 1 und Seabird 2.

Auch passiert es, dass unsere Crew ein Boot in Seenot direkt sichtet und wir so Kurs aufnehmen können. Egal wie wir von einem Seenotfall erfahren, in allen Fällen informieren wir umgehend die zuständigen staatlichen Behörden. Wir geben alle bis dahin verfügbaren Informationen weiter, wie die Position, die ungefähre Anzahl an Personen, den Zustand des Bootes. Auch fordern wir die Behörden auf, die Koordinierung zu übernehmen und damit weitere Anweisungen zu geben.

Mit unserem zivilen Rettungsschiff nähern wir uns schnell der Position des Notfalls und lassen auf dem Weg dorthin unsere Schnellboote (RHIBs) zu Wasser. Diese haben genügend Schwimmwesten für alle Personen an Bord. Zunächst sprechen wir mit den Menschen, um sie zu beruhigen und zu verhindern, dass sie in Panik ins Wasser springen und teilen die Schwimmwesten aus. Kleine Kinder und verletzte oder bewusstlose Personen werden zuerst evakuiert und schnell zum Schiff gebracht, wo sich das medizinische Team um sie kümmert. Anschließend beginnen wir nach und nach alle Personen vom Boot auf das Schiff zu transferieren.

An Bord identifizieren unsere Ärzt:innen verletzte, kranke, schwangere und weitere besonders schutzbedürftige Personen und beginnen mit der Behandlung in unserem Krankenhaus. Oft haben die Menschen Verbrennungen von dem Treibstoff-Salzwasser-Gemisch, in dem sie stunden- oder sogar tagelang sitzen mussten und viele sind dehydriert. Wenn wir besonders schwere medizinische Notfälle an Bord haben, die wir auf See nicht versorgen können, fordern wir die zuständigen Behörden umgehend dazu auf, eine Evakuierung zu veranlassen. Jede Person an Bord bekommt ein Hygieneset und eine Wasserflasche, die nachgefüllt werden kann, und je nach Wetterlage verteilen wir Rettungsdecken oder warme Decken. Wir zählen die Menschen und schicken einen detaillierten Bericht an die zuständigen Behörden. Seit 2018 ist es traurige Praxis, dass zivile Rettungsschiffe meist tage- oder wochenlang nach einer Rettung ausharren müssen, bis einer Anlandung an einem sicheren Hafen stattgegeben wird.

Nach international gültigem Seerecht müssen Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, in einen sicheren Hafen gebracht werden.7 Ein sogenannter „sicherer Hafen“ muss verschiedene Bedingungen erfüllen, z. B. muss der Zugang zur Grundversorgung und der Schutz vor Verfolgung der aus Seenot geretteten Personen gegeben sein.8

In der jungen Vergangenheit koordinierte die Seenotrettungsleitstelle in Rom alle Rettungen und wies uns und allen anderen auf See rettenden zivilen Schiffen Häfen zur Anlandung in Süditalien zu.

Seit dem Regierungswechsel in Italien Mitte 2018 wurden den Rettungsschiffen zunächst verzögert, dann zwischenzeitlich überhaupt keine Häfen mehr zugeteilt. Mit der im September 2019 von Deutschland, Frankreich, Malta und Italien verabschiedeten „Malta Erklärung“ wurde ein freiwilliger Mechanismus vorgeschlagen, der zur schnellen und zuverlässigen Zuweisung eines sicheren Hafens beitragen soll.9

Nach wie vor dauert es jedoch immer noch Tage bis hin zu Wochen – wie im Fall des Handelsschiffs Maersk Etienne10 – bis Schiffe mit aus Seenot geretteten Menschen in einem europäischen Hafen anlanden dürfen. In dieser Zeit verhandeln die Regierungen der europäischen Mitgliedsstaaten, welches Land wie viele Menschen mithilfe eines sogenannten „Relocation“-Verfahrens aus Italien und Malta aufnimmt. Solange die Aufnahmequoten nicht feststehen, müssen die Überlebenden weiter auf den Schiffen ausharren.

Berichte von aus Seenot geretteten Menschen zeigen zudem, dass sie teilweise monatelang ohne weitere Informationen auf ihre Überstellung in ihr „Aufnahmeland“ warten müssen und zum Beispiel in Deutschland nach kürzester Zeit mit Ablehnungsbescheiden einer Abschiebungsgefahr ausgesetzt sind.11 Damit bleibt unsere Forderung nach „sicheren Häfen“, die auch wirklich „sicher“ sind und den Menschen eine Bleibeperspektive bieten, unerfüllt.

7 SAR Konvention von 1979, Annex, Chapter 1, 1.3.2.

8 Eine Konkretisierung eines “place of safety” ist in der vom Schiffssicherheitsausschuss (MSC) der IMO im Jahr 2004 verabschiedete Resolution MSC.167(78) zu finden: https://wwwcdn.imo.org/localresources/en/OurWork/Facilitation/Documents/MSC.167%20(78).pdf

9 Joint Declaration of Intent on a Controlled Emergency Procedure – Voluntary Commitments by Member States for a Predictable Temporary Solidarity Mechanism, 23.09.2019, https://download.repubblica.it/pdf/2019/politica/joint-declaration.pdf (zuletzt abgerufen am 09.02.2021).

10 https://www.theguardian.com/world/2020/sep/13/migrants-land-in-sicily-after-longest-standoff-in-european-maritime-history (zuletzt abgerufen am 09.02..2021).

11 https://eu-relocation-watch.info/

Tunesien disqualifiziert sich aus gleich mehreren Gründen als sicherer Anlande-Ort für Menschen, die im zentralen Mittelmeer gerettet wurden:

In Tunesien gibt es kein nationales Asylsystem. Das heißt, es gibt kein nationales Verfahren zur Prüfung des Geflüchtetenstatus‘ und keine rechtliche Auskunft zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis.12 Asyl ist ein Menschenrecht und folglich stellt die nicht existierende Möglichkeit, Asyl zu beantragen, eine Grundrechtsverletzung dar.

Zudem können die geretteten Menschen bestimmten Gruppen angehören, die einem spezifischen Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind: Oppositionellen Tunesier:innen beispielsweise, die aus dem Land selbst fliehen, droht Haft und Misshandlung.13 Eine Rückführung dieser Personen würde eklatant gegen das Non-Refoulement-Prinzip14 verstoßen. Tunesien bestraft zudem nach wie vor gleichgeschlechtliche Liebe und ist daher als unsicher für LGBTIQ*-Personen anzusehen.15

Darüber hinaus existieren Berichte über die willkürliche Inhaftierung von Migrierenden, die weder über die Rechtsgrundlage oder Dauer ihrer Inhaftierung informiert wurden, noch das Recht wahrnehmen konnten, anwaltliche Unterstützung und Dolmetscher*innen zu erhalten oder ihr Konsulat zu kontaktieren.16

Zudem besteht die Gefahr, dass Menschen, die in Tunesien an Land gehen, Kettenabschiebung droht, wie im Fall der Menschen an Bord der Maridive 601 im Jahr 2019 dokumentiert wurde.17

12 Global Detention Project 2020: Country Report Immigration Detention in Tunisia, Shrouded in Secrecy, https://www.globaldetentionproject.org/wp-content/uploads/2020/03/GDP-Immigration-Detention-in-Tunisia-March-2020.pdf (zuletzt abgerufen am 29.01.2021).
13 Global Detention Project 2020: Country Report Immigration Detention in Tunisia, Shrouded in Secrecy, https://www.globaldetentionproject.org/wp-content/uploads/2020/03/GDP-Immigration-Detention-in-Tunisia-March-2020.pdf (zuletzt abgerufen am 29.01.2021).
14 Der Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement) der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet die Rückschiebung einer Person in ein Land, in dem ihr Folter bzw. unmenschliche Behandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzung drohen.
15 Human Rights Watch 2020: Tunisia: Two-Year Sentence for Homosexuality, https://www.hrw.org/news/2020/07/06/tunisia-two-year-sentence-homosexuality# (zuletzt abgerufen am 29.01.2021).

16 Detaillierte Informationen und Berichte finden sich im Amnesty International Länderreport “Tunesien 2017/2018”.

17 siehe: https://www.theguardian.com/global-development/2019/aug/26/un-agency-accused-of-pressuring-refugees-to-return-to-bangladesh (zuletzt abgerufen am 29.01.2021).

Unsere Rettungen finden mehrheitlich in der libyschen Such-und-Rettungszone statt. Doch weder ist Libyen ein sicherer Ort zur Anlandung (siehe Frage 11), noch erfüllt die libysche Seenotrettungsleitstelle die von der IMO (Internationale Maritime Organisation) festgelegten internationalen Standards.18 Ferner hält Malta seit ein paar Jahren seine Häfen für zivile Rettungsschiffe geschlossen, sodass uns letztlich Häfen zum Anlanden in Süditalien zugewiesen werden.

Die Überfahrt aus dem zentralen Mittelmeer nach Deutschland dauert mehrere Wochen und ein Rettungsschiff ist kein Ort, an dem sich Personen länger als nötig aufhalten können. Die Geretteten befinden sich oft in gesundheitlich kritischen Zuständen und müssen so schnell es geht medizinisch versorgt werden und an Land die Möglichkeit erhalten, zur Ruhe zu kommen.

Nach der Anlandung in Italien fordern wir eine schnelle und solidarische Verteilung der Schutzsuchenden in Europa. Wir erkennen an, dass insbesondere Italien und Malta, aber auch Griechenland und Spanien, zu lange von den restlichen europäischen Mitgliedstaaten allein gelassen wurden und noch immer werden. Wir fordern eine schnelle Verteilung innerhalb der Europäischen Union, die auf den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen aufbaut und ihnen das Recht zu bleiben eröffnet.

Libyen ist unter keinen Umständen ein sicherer Ort für Flüchtende. Die Zustände in libyschen Internierungslagern wurden unzählige Male, sowohl von der UN als auch von diversen Menschenrechtsorganisationen, dokumentiert.19 In besagten Gefangenenlagern drohen den Menschen schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Missbrauch, sexualisierte Gewalt und Freiheitsentzug.

Das internationale Seerecht schreibt vor, dass aus Seenot gerettete Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden müssen. Dies bedeutet, dass die Grundversorgung der Menschen sowie der Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung und Schutz vor Verfolgung sichergestellt sein müssen.20

Auch verbietet die Genfer Flüchtlingskonvention das Zurückführen von Menschen in ein Land, in dem das Leben und die Freiheit der Person gefährdet sind.21 Der Grundsatz der Nichtzurückweisung ist auch in Art. 3 der UN-Antifolterkonvention (CAT) sowie in Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta verankert.

Wer Menschen nach Libyen zurückführt, bricht internationales Recht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits 2012 im sogenannten „Hirsi Jamaa-Urteil“ Italien wegen der Rückführung Flüchtender nach Libyen verurteilt.22

19 https://www.amnesty.org/en/documents/mde19/3084/2020/en/; https://www.refworld.org/pdfid/5f1edee24.pdf (beide zuletzt abgerufen am 09.02.2021).

20 SAR Konvention von 1979, Annex, Chapter 1, 1.3.2.

21 Artikel 33, Absatz 1, GFK 1951.

22 http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-109231 (zuletzt abgerufen am 09.02.2021).

Unsere Kernforderungen an die deutsche Bundesregierung und die EU-Institutionen sind direkt umsetzbar und würden dazu führen, dass dem politisch motivierten Sterbenlassen im Mittelmeer ein Ende gesetzt und geltendes Recht wieder eingehalten werden würde:

Wir fordern:

  • Die Schaffung sicherer und legaler Fluchtwege, damit Menschen sich nicht weiter in Lebensgefahr begeben müssen. #safepassage
  • Das sofortige Einstellen der Finanzierung und Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache und die Abschaffung der sogenannten libyschen Such-und-Rettungs-Zone. Wir fordern die EU nachdrücklich auf, jede Politik zu stoppen, die darauf abzielt, die internationalen Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention zu umgehen, indem sie illegale Rückführungen an die sogenannte libysche Küstenwache auslagert und damit das internationale Flüchtlings- und Seerecht verletzt.
  • Die Einrichtung einer nicht-militärischen europäischen Such- und Rettungsoperation mit größeren Kapazitäten und Ressourcen als das Mare Nostrum-Programm – selbst unter Mare Nostrum starben Tausende von Menschen auf See.23 Die Europäische Union kann eine zivile Seenotrettungsmission im Mittelmeer koordinieren und auch finanzieren – wäre der Wille nur da. Ein Rettungsprogramm könnte beispielsweise auch von einem betroffenen EU-Mitgliedstaat initiiert werden, indem dieser das massenhafte Ertrinken von Flüchtenden als „Krise“ bezeichnet. Die EU-Kommission ist dann zur Hilfeleistung verpflichtet. Der Krisenreaktionsmechanismus kann entweder durch die Ratspräsidentschaft ausgelöst werden oder nachdem ein Mitgliedstaat die Solidaritätsklausel in Anspruch genommen hat.24
  • Die Entkriminalisierung von Flucht und ziviler Seenotrettung.
  • Die Evakuierung der libyschen Lager und Resettlement in die EU. Die EU muss sich zu ihrer Verantwortung bekennen und die Externalisierung des europäischen Grenzregimes stoppen.
  • Die Wiederherstellung offener Häfen in Europa – eine solidarische Verteilung der Menschen auf Grundlage der individuellen Bedürfnisse der Betroffenen muss an Land erfolgen und kann nicht auf dem Rücken von Menschen in Not verhandelt werden.
  • Die Aufnahme in Kommunen – solidarische Städte und Kommunen in Europa müssen die Möglichkeit bekommen, selbstständig über die Aufnahme von Menschen zu entscheiden.
  • Solange es Frontex und EUNAVFOR MED gibt, muss es ebenfalls einen transparenten Kontrollmechanismus geben, der die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen ihrer Einsätze juristisch verfolgt.

23 Mare Nostrum war eine von der italienischen Regierung initiierte militärisch-humanitäre Seenotrettungsmission, welche von Oktober 2013 bis Oktober 2014 operierte.
24 https://www.bundestag.de/resource/blob/684132/448a2469a2ed48a9d2710e9f795296af/PE-6-094-19-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 09.02.2021).

Menschen, die sich auf der Flucht befinden, sind zunächst einmal Schutzsuchende. Menschen, die sich in Seenot befinden, müssen nach internationalem Recht gerettet werden.25 Eine Fluchtgeschichte ist lang, komplex und lässt sich nicht auf simple Begründungen runterbrechen. Sie beginnt meist schon lange bevor sich die Menschen in Libyen aufhalten und wir sie auf See antreffen. In Libyen angekommen, werden sie in vielen Fällen Opfer von Folter, Missbrauch und Zwangsarbeit. Die Situation in Libyen ist ausweglos, sodass die Flucht über das Mittelmeer oftmals die einzige Möglichkeit ist, diesen Zuständen zu entkommen.

Im Moment der Rettung ist es irrelevant, warum Menschen die Flucht über das Mittelmeer auf sich nehmen. Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Dafür muss sichergestellt werden, dass jede Person Zugang zu einem fairen Verfahren hat und dieses Recht wahrnehmen kann. Ein solches Verfahren kann nicht auf See stattfinden, sondern ausschließlich an Land.

Sea-Watch setzt sich für die Bewegungsfreiheit aller ein. Jeder Mensch sollte die Wahl haben, an welchem Ort er:sie sich aufhalten möchte oder nicht. Wir betonen die Legitimität verschiedenster Fluchtgründe wie Armut, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung, Krieg und gewaltsame Konflikte, Verfolgung und Perspektivlosigkeit. Sogenannte „Wirtschaftsmigrant:innen“ fliehen oft vor einer neokolonialen Ausbeutungspolitik der Länder des globalen Nordens. Der Wunsch, das eigene Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten und sich selbst eine Perspektive zu schaffen, ist legitim. Eine Kategorisierung von Menschen nach gültigen und weniger gültigen Fluchtgründen lehnen wir ab.

Zum Vorwurf des sogenannten Pull-Faktors haben wir schon ausführlich in Frage 5 Stellung genommen. Dem hinzuzufügen ist nur noch eine Ergänzung: Die beste Bekämpfung von Menschenschmuggel ist die Schaffung legaler Fluchtwege. Dies ist eine Kernforderung seit Anbeginn der zivilen Seenotrettung. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen auf sicheren und legalen Wegen fliehen können, wir nicht gebraucht werden und Schlepper:innen aufgrund mangelnder Nachfrage ihr Geschäftsmodell nicht aufrechterhalten können.

Wer ernsthaft sogenannte Schlepperbanden bekämpfen möchte, muss sich für sichere Fluchtwege einsetzen. Alles andere ist Augenwischerei.

Genau das ist unsere Kernforderung: sichere und legale Einreisewege nach Europa für alle Menschen und nicht nur für diejenigen, die zufällig in einem Land mit dem richtigen Pass geboren wurden. Menschen ohne Visum oder Aufenthaltserlaubnis können jedoch nicht einfach ins Flugzeug oder auf die Fähre steigen und legal Grenzen übertreten. Legale Einreisemöglichkeiten sind kaum vorhanden. Einen Antrag auf Asyl zu stellen, ist nur in Europa möglich, nicht in Botschaften oder Konsulaten im Ausland. Auch das Angebot an Resettlementplätzen steht in keinerlei Verhältnis zu dem tatsächlichen Bedarf. Visa sind oft an hohe finanzielle und zeitliche Voraussetzungen geknüpft, welche von Menschen in akuten Notsituationen nicht erfüllbar sind. Hinzu kommt, dass behördliche Strukturen in Kriegs- und Krisengebieten meist nicht mehr zuverlässig funktionieren. Somit sind Flüchtende gezwungen, die Überfahrt über das Mittelmeer auf sich zu nehmen, um in Europa Schutz zu finden und ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen.

Frontex ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Die Europäische Union hat Frontex die Verantwortung zur Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der Außengrenzen, der Erstellung von Risikoanalysen, der Ausbildung von Grenzschutzbeamt:innen sowie in der Durchführung von Abschiebungen übertragen.26 Die Agentur ist seit ihrer Gründung 2004 immer wieder massiver Kritik aufgrund von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Diese reichen von der Beteiligung an Pushbacks, also der Zurückdrängung von Flüchtenden auf Hoher See und an den Landesgrenzen, bis zu Misshandlungen von Migrierenden.27 Zudem existieren Beweise für die Abschiebung von unbegleiteten Minderjährigen sowie der „vorsorglichen“ Fesselung von Menschen auf Abschiebeflügen.28

Bei unseren Beobachtungsflügen mit unseren Flugzeugen Seabird 1 und Seabird 2 werden wir immer wieder Zeug:innen von Pushbacks durch die sogenannte Libysche Küstenwache, die mit großer Wahrscheinlichkeit von Frontex koordiniert worden sind.29

26 https://frontex.europa.eu/de/was-wir-machen/hauptaufgaben/ (zuletzt abgerufen am 31.01.2021).

27 Spiegel International 2020: Illegal Practices. EU Border Agency Frontex Complicit in Greek Refugee Pushback Campaign https://www.spiegel.de/international/europe/eu-border-agency-frontex-complicit-in-greek-refugee-pushback-campaign-a-4b6cba29-35a3-4d8c-a49f-a12daad450d7 (zuletzt abgerufen am 31.01.2021).

28 Correctiv 2019: Frontex: Watching the watchers, https://correctiv.org/en/top-stories-en/2019/08/15/frontex-watching-the-watchers/ (zuletzt abgerufen am 31.01.2021).

29 Zum genaueren Nachlesen siehe unsere Airborne Factsheets.

Der EU-Ministerrat rief die EUNAVFOR MED Operation Sophia (European Union Naval Forces) als europäische Militäroperation im Oktober 2015 ins Leben. Die Hauptaufgabe der Operation ist die Identifizierung und Beschlagnahmung von Booten, die zum Menschenschmuggel vor der libyschen Küste eingesetzt werden. Im Juni 2016 wurde das Mandat erneuert und ein Training der sogenannten Libyschen Küstenwache und die Unterstützung des UN-Waffenembargos in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste hinzugefügt.30 Die EUNAVFOR MED Operation ist keine Seenotrettungsoperation wie beispielsweise die vergangene italienische militärisch-humanitäre Operation Mare Nostrum. Im März 2019 wurde zudem die Beteiligung mit seegehenden Einheiten an der Operation Sophia ausgesetzt, womit Seenotrettung faktisch unmöglich wurde.31 Seit März 2020 operiert die Nachfolgeoperation EUNAVFOR MED Irini. Diese hat die Überwachung des UN-Waffenembargos gegenüber Libyen zum zentralen Ziel. Der Kapazitätenaufbau der sogenannten Libyschen Küstenwache ist nach wie vor Teil der Operation. Auch Irini hat Seenotrettung in keiner Weise als zentrale Aufgabe, da sie östlich der Fluchtrouten im zentralen Mittelmeer patrouilliert.32 Bei unseren Aufklärungsflügen beobachten wir immer wieder die direkte Zusammenarbeit von EUNAVFOR MED Flugzeugen mit der sogenannten Libyschen Küstenwache bei Pushbacks.33

30 Operation Sophia extension: effectiveness and consequence – September 2016 · Human Rights at Sea (zuletzt abgerufen am 31.01.2021).

31 https://www.bmvg.de/de/aktuelles/operation-sophia-wird-fortgesetzt-36740 (zuletzt abgerufen am 31.01.2021).

32 https://www.operationirini.eu/about-us/#mission (zuletzt abgerufen am 31.01.2021).

33 siehe hierzu den Remote Control Report (2020) zur EU-Libyen Kooperation sowie unsere Airborne Factsheets.

Die sogenannte Libysche Küstenwache ist keine einheitliche Organisation, sondern setzt sich aus verschiedenen Akteur:innen zusammen. Das operationelle Zentrum der Küstenwache, das sogenannte Joint Rescue Coordination Center (JRCC Tripoli), ist verantwortlich für die Koordinierung von Seenotfällen in der sogenannten libyschen Such-und-Rettungszone, welche im Sommer 2018 von der International Maritime Organization (IMO) offiziell notifiziert wurde. Allerdings erfüllt das JRCC die offiziellen Anforderungen der IMO an eine Seenotrettungsleitstelle nicht annähernd: weder ist es zuverlässig erreichbar, noch sprechen die verantwortlichen Personen Englisch. Ferner bricht die sogenannte Libysche Küstenwache mit jeder Rückführung internationales See- und Flüchtlingsrecht, wonach aus Seenot gerettete Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden müssen und welches es ihnen verbietet, Menschen in ein Land zurückzuführen, wo ihnen fundamentale Menschenrechtsverletzungen drohen (siehe Frage 11).

Die sogenannte Libysche Küstenwache wird von der Europäischen Union, maßgeblich im Rahmen des EU Trust Fund for Africa, finanziert, trainiert und ausgestattet. Die Unterstützung reicht von der personellen Ausbildung, über die Bereitstellung von Schiffen und anderweitigem Equipment, bis hin zum finanziellen und operationellen Kapazitätenaufbau.34 Ziel der Europäischen Union ist es, das europäische Grenzregime weiter in den Süden zu externalisieren, Menschenrechtsverletzungen in Form von illegalen Rückführungen an die sogenannte Libysche Küstenwache auszulagern und möglichst viele Menschen daran zu hindern, Europa zu erreichen. Mithilfe unserer Aufklärungsflugzeuge Seabird 1 und Seabird 2 haben wir wiederholte Male beobachtet, wie Frontex- und EUNAVFOR MED-Flugzeuge mit der sogenannten Libyschen Küstenwache zusammenarbeiten.

Auch die deutsche Bundesregierung unterstützt und legitimiert die sogenannte Libysche Küstenwache durch die deutsche Beteiligung an der europäischen Militärmission EUNAVFOR MED Irini. Auch diese beinhaltet den weiteren Kapazitätenausbau34 der sogenannten Libyschen Küstenwache. Weitere Informationen zu EUNAVFOR MED findest Du in Frage 17.

Wir sind auf Spenden angewiesen, um auch in diesem Jahr Menschenleben im Mittelmeer retten zu können. Besonders Fördermitgliedschaften helfen uns, unsere Missionen längerfristig planen zu können. Neben der materiellen Hilfe ist auch organisatorische Hilfe willkommen. Mehr dazu, wie Du aktiv werden kannst, findest Du hier. Eine große Hilfe ist auch die Verbreitung der Idee von „Sea-Watch“ im Freund:innen- und Bekanntenkreis. Infomaterial für Vorträge, Konzerte, kreative Events könnt ihr hier anfordern!