Wir haben Post! Lona, eine syrische Juristin, die Sea-Watch im September vor der Insel Kos aus Seenot gerettet hat, hat uns einen Brief geschickt. „Das Schreiben hilft mir, wieder zu mir selbst zu finden“, sagt die 28-Jährige. Lona heißt eigentlich anders. Nachdem sie fünf Jahre gegen das Assad-Regime gekämpft hatte, sah sie keine andere Wahl, als ihre Heimat zu verlassen. In den kommenden Wochen wird sie auf unserem Blog Einblicke in ihr neues Leben in Süddeutschland geben.
„Es ist reiner Zufall, dass mein Leben immer irgendwie davon bestimmt war, aus einem Entwicklungsland zu stammen. Diese Wurzeln haben sich bis vor Kurzem, nicht wirklich in mein Leben gedrängt. Aber sie bewirkten, dass ich von einem tieferen Ausgangspunkt in das Leben startete, als andere Menschen auf diesem Planeten. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Dir und mir, außer unserer Nationalität. Gleichzeitig musste ich aber noch in meinem eigenen Land von einem tieferen Ausgangspunkt starten, weil ich eine Frau bin. Das sind zwei Zufälle: Dass ich in meinem Land geboren bin und dass ich in diesem Land als Frau geboren bin.
Als der Krieg kam, konnte ich mich nie an all das Sterben um mich herum gewöhnen. Ich verlor meinen Lebenshunger nicht. Ich wollte mich auch nicht mit den Gedanken abfinden, die in den Nachrichten über den „Bürgerkrieg“ in meinem Land zwischen der Mehrheit und den Minderheiten verbreitet worden. Manchmal hatte ich das Gefühl, mein Leben hätte mehr Wert gehabt, mein Kampf mehr Sinn, würde ich zu einer Minderheit gehören.
Über die Jahre habe ich alles verloren, und fühlte mich, als hätte ich überall versagt: Ich war nicht frei in meinen Handlungen, in meinen Gedanken, es war nicht einmal möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles drehte sich um den Krieg. Ich habe mich selbst verloren. Darum beschloss ich, in ein anderes Land zu fliehen. Ich hatte wahnsinnige Angst davor erneut zu versagen.
Wie tausende andere, bepackt mit Erinnerungen, Träumen und Enttäuschungen aus ihrer Heimat, wollte ich die Grenze unbedingt passieren. Ich floh vor dem Militär. Ich vermied Polizisten überall. Mein Leben war verpfändet an die Gnade von Händlern, Schmugglern und anderen. Dann, dort, ein Boot, bloß ein paar Meter entfernt von der Küste einer griechischen Insel. Würdest Du mich für verrückt halten, wenn ich Dir sage, dass sich all die Risiken richtig angefühlt haben, weil ich sie aus Liebe zu meinem Leben auf mich nahm?
Akzeptiert der Verstand, das Leben zu lieben und dabei sein Leben derart aufs Spiel zu setzen?
Auch wenn noch viel vor mir liegt, habe ich den schwierigsten Teil meiner Reise überstanden. Deswegen möchte ich Euch an die anderen erinnern, die immer noch mitten in Krieg und Sterben gefangen sind. Ich schreibe aus Eurem Land über die Erfahrungen meiner Reise und über das Überleben entgegen aller Wahrscheinlichkeiten, aber gleichzeitig sind da viele andere, die noch nicht wissen, ob sie als Flüchtlinge in Eurem Land ankommen – oder beim Versuch dabei sterben.
Ich habe mein Leben alleine aufs Spiel gesetzt. Aber wer wird deren Kinder tragen, wenn sie tot sind?
Das Thema der Fluchtbewegungen und Migration ist riesig, mit all seinen politischen, ökonomischen und humanitären Dimensionen. Es gibt so viele Interessen, die von so vielen Parteien vertreten werden und sich überschneiden. Und es scheint, dass das Thema von Jahr zu Jahr schlimmer wird, seine negativen Auswirkungen zunehmen. Ich bin nicht hier, um Euch das alles zu erklären. Ihr sollt bloß wissen, dass Flüchtlinge ihr Leben wir Ihr leben, und dass sie Zuflucht suchen, weil sie schwächer waren als die Zerstörer ihres Landes.
Ich möchte jedem Land, jeder Institution oder jedem Einzelnen danken, der oder die sich – irgendwie – um Flüchtlinge gekümmert hat, weil er sie als Menschen in Not gesehen hat.
Und jeder, der sich in der Lage sieht, auch nur eine Kleinigkeit zu helfen – auch nur einer Person bei ihrer Suche nach Zuflucht zu helfen, auch nur einen Schmerz zu lindern, um die Grausamkeit um uns herum zu mindern – es könnte schon ein Lächeln in das Gesicht eines Flüchtlings bringen. Glaubt mir, schon das würde eine größere Auswirkung auf das Leben einer Person haben als Ihr denkt.“
Übersetzung aus dem Arabischen: Kashef
Foto: Theresa Leisgang