Wie maltesische und weitere europäische Behörden Menschen zum Sterben auf See zurückließen und Überlebende in den Krieg zurückführten.
Zwölf Menschen haben durch europäisches Handeln und Nicht-Handeln im Mittelmeer ihr Leben verloren. Die Behörden in Malta, Italien, Libyen, Portugal, Deutschland sowie die EU-Grenzagentur Frontex wurden über eine Gruppe von etwa 55 [später bestätigten 63] Personen in Seenot informiert. Sie entschieden sich aber dafür, zwölf von ihnen verdursten oder ertrinken zu lassen, während sie die Zwangsrückführung der Überlebenden nach Libyen, einem Ort des Krieges, der Folter und Vergewaltigung, koordinierten.
Wie dieser Bericht zeigt, und entgegen den Behauptungen Maltas [Link], trieb das Boot in der maltesischen Such- und Rettungszone unweit der italienischen Insel Lampedusa. Alle Behörden entschieden sich dazu, nicht einzugreifen, und benutzten die Covid-19-Pandemie als Vorwand, um das Seerecht, die Menschenrechte und die Flüchtlingskonventionen auf dramatische Weise zu verletzen. All diese Behörden, vor allem aber die maltesischen Streitkräfte, tragen die Verantwortung für den Tod von zwölf Menschen und das Leid Dutzender anderer.
Im Namen der Opfer und der Überlebenden, die jetzt im unmenschlichen Tarik Al Sikka-Gefangenenlager im libyschen Tripolis eingesperrt sind, klagen wir diese Behörden an. Es ist Ihnen nicht gelungen, ihrer Verantwortung entsprechend, einzugreifen und Menschen zu retten. Sie haben proaktiv die Voraussetzungen für das, was passiert ist, geschaffen. Dieser Fall, wie auch mehrere andere Notrufe, die bei Alarm Phone eingingen, verdeutlichen einmal mehr die verheerenden Auswirkungen der EU-Grenzpolitik auf das Leben von Schutzsuchenden. Bei diesem Fall zeigte sich nicht nur die Untätigkeit der Behörden, sondern auch eine gemeinsame Anstrengung, um jeden Preis zu verhindern, dass die in Seenot geratenen Menschen Europa erreichen.
Das Alarm-Phone, Sea-Watch und Mediterranea haben all ihre Kräfte mobilisiert, um diese Todesfälle zu verhindern – vergebens. Wir wissen, dass Verwandte und Freund*innen der Verstorbenen ihre Angehörigen nicht zurückbekommen werden. Und wir wissen, dass diejenigen, die jetzt wieder in schrecklichen Lagern in Libyen inhaftiert sind, Grausamkeiten und Not erleiden werden. Wir haben versucht, eine Rettung zu organisieren, als alle 63 Menschen noch am Leben waren, aber es ist uns nicht gelungen. Wir sind gescheitert, weil die europäischen Akteur*innen darauf aus waren, sie sterben zu lassen.
In diesem Bericht bieten wir eine detaillierte Rekonstruktion des Seenotfalls, die deutlich zeigt, wie dieser sich entwickelt hat und auf welche Weise Malta und andere europäische Behörden sich weigerten, die Menschen aus ihrer Not zu retten. Wir haben Belege, die auf unserem direkten Austausch mit den Menschen in Seenot und ihren Angehörigen beruhen sowie Aussagen von Überlebenden nach ihrer Zwangsrückführung nach Libyen, gesammelt. Wir haben Daten über die Bewegungen staatlicher und nichtstaatlicher Flugzeuge und Schiffe auf See und in der Luft gesammelt. Wir verfügen über eine Fülle von Dokumenten, die unsere Kommunikation mit den maltesischen Streitkräften, dem italienischen MRCC, der sogenannten Libyschen Küstenwache und anderen europäischen Behörden belegen. Instanzen, die sich entweder weigerten, einzugreifen oder illegal handelten. Angesichts der Fülle an Informationen, über die wir verfügen, stellen wir hier nur einige davon vor, weitere können auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden.
ZUSAMMENFASSUNG DER FAKTEN
In der Nacht vom 9. auf den 10. April 2020 sind etwa 55 Personen (später wurden 63 Personen bestätigt), darunter sieben Frauen und drei Kinder, in einem hochseeuntauglichen Schlauchboot aus Garabulli, Libyen, geflohen.
Am Freitag, den 10. April, entdeckte ein Frontex-Luftaufklärer im libyschen Such und Rettungs-Gebiet drei Schlauchboote mit Menschen an Bord, wie Frontex in Presseerklärungen an die ANSA Rom am 13. April mitteilte (Agentur Launch 16:14LT): „Unter Einhaltung der operativen Verfahren und der internationalen Gesetze – erklärt die Frontex-Sprecherin – haben wir die Seenotrettungs-Koordinierungszentren (Italien, Malta, Libyen und Tunesien) unverzüglich über den genauen Standort der Boote informiert.“
In der Nacht vom 10. auf den 11. April traten die Menschen in Seenot mit dem Alarm Phone in Kontakt. Sie sagten, dass Wasser ins Boot eindringen würde und sie dringend Hilfe benötigten. Nachdem sie ihre GPS-Position mitgeteilt hatten, die sie in internationalen Gewässern verortete (N 33°41.795′, E 013°34.0124′ empfangen um 01:52 MESZ, 11.04.2020), informierte Alarm Phone die zuständigen Behörden in Malta, Italien und Libyen. In den nächsten Stunden blieb Alarm Phone mit den Personen in Seenot in Kontakt und übermittelte den zuständigen Behörden regelmäßig aktuelle GPS-Positionen und Einzelheiten der Notsituation.
Am Samstag, dem 11. April, um 09:20 Uhr MESZ, erreichte Alarm Phone schließlich die libyschen Behörden am Telefon, die erklärten: „Die Libysche Küstenwache leistet jetzt nur noch Koordinierungsarbeit wegen Covid-19, wir können keine Rettungsaktion durchführen, aber wir stehen in Kontakt mit Italien und Malta.“
Alarm Phone blieb mit dem in Seenot geratenen Boot in Kontakt. Mehrere aktualisierte GPS-Positionen wurden den Behörden sofort übermittelt. Trotzdem weigerten sich die informierten Behörden, eine Rettungsaktion für die rund 55 in Not geratenen Personen zu initiieren oder zu koordinieren.
Am Sonntag, den 12. April, um 12.45 Uhr MESZ empfing das Alarm Phone die Position N34° 29.947′ E013° 37.803′ von dem in Seenot geratenen Boot, nach der sie sich eindeutig in der maltesischen SAR Zone befanden. Um 14:05 MESZ riefen die Menschen erneut an und baten verzweifelt um Hilfe. Danach konnte kein Kontakt mehr zu den Menschen hergestellt werden.
Am Montagabend, den 13. April, nachdem bereits seit etwa 36 Stunden kein Kontakt zu dem Boot bestand und aufgrund des zunehmenden Drucks verschiedener Akteure (z.B. eines Seenotfalls, der schließlich von der “Aita Mari” gerettet wurde – Link), initiierten sowohl die italienischen als auch die maltesischen Behörden Suchmissionen aus der Luft und schließlich wurde das Boot um 23:45 Uhr MESZ in der maltesischen Such- und Rettungszone in Position 35°01’N 013°06’E wieder gesichtet.
Am Dienstag, den 14. April, 00:21 MESZ, schickte Malta eine NAVTEX (Link) an alle Boote: „Alle Schiffe, die sich in dem Gebiet auf der Durchreise befinden, sollen scharf Ausschau halten und bei Bedarf Hilfe leisten.“ Die GPS-Position entsprach einem geschätzten Bewegungsmuster des in Seenot geratenen Bootes mit ~55 Personen an Bord. Das NAVTEX stellte jedoch auch fest (wenn auch falsch geschrieben), dass Malta nicht in der Lage wäre, einen sicheren Ort zu bieten. Um diese Zeit stellte das Frachtschiff IVAN Sichtkontakt zu dem in Seenot geratenen Boot her. Erneut kontaktierte Alarm Phone die maltesischen Streitkräfte mehrfach im Laufe des Tages, um herauszufinden, ob bereits Rettungsaktionen vorgenommen worden waren.
Kurz darauf stoppte das vorbeifahrende Frachtschiff IVAN (Link) eine Meile von dem in Seenot geratenen Boot entfernt und Malta ordnete an, dass sie vor Ort bleiben und das in Seenot geratene Boot überwachen sollen, bis Rettung eintreffen würde. Aufgrund des hohen Wellengangs, der allgemein ungünstigen Bedingungen auf See in der Nacht und der ungeeigneten Schiffsform war die IVAN nicht in der Lage, die Menschen in Seenot zu retten, und sie wurde von Malta auch nicht dazu aufgefordert. Während der Dauer des Einsatzes war ein Luftkommando der maltesischen Streitkräfte vor Ort, das der IVAN und den ankommenden zwei Booten Befehle erteilte.
Nach Aussagen der Überlebenden sprangen drei Personen von dem Boot in Seenot ins Wasser, um zur IVAN zu gelangen. Sie ertranken. Vier weitere Menschen warfen sich aus Verzweiflung ins Meer. Mit den Worten eines Überlebenden: „Wir riefen um Hilfe und gaben Zeichen. Drei Menschen versuchten, zu diesem großen Boot zu schwimmen, als es sich zu entfernen begann. Sie ertranken. Wir gaben dem Flugzeug mit den Telefonen Zeichen und wir hielten das Baby hoch, um zu zeigen, dass wir in Not waren. Das Flugzeug sah uns ganz sicher, denn es ließ ein ein rotes Licht aufblitzen. Kurz darauf kam ein anderes Boot aus dem Nichts und holte uns ab.“
Gegen 05.00 Uhr MESZ trafen ein Fischerboot und ein zweites, noch nicht identifiziertes Schiff ein und nahmen die Überlebenden, koordiniert von den maltesischen Streitkräften, an Bord. Die IVAN wurde angewiesen, den Schauplatz zu verlassen.
Am Dienstagabend teilten die maltesischen Behörden dem Alarm Phone mit, dass es in ihrem Gebiet keine offenen Seenotfälle mehr gebe, ohne weitere Informationen über das Schicksal dieses in Seenot geratenen Bootes. Dass die italienischen Behörden am Dienstagabend noch mehrere Luftüberwachungsmissionen organisierten, spricht dafür, dass sie von der illegalen Rückführung nicht wussten. Ihre Missionen blieben ohne Ergebnisse.
Am Mittwochmorgen, den 15. April, erhielt Alarm Phone die Information, dass 56 Personen an Bord des Fischerbootes nach Libyen zurückgebracht worden waren. Darunter befanden sich die Leichen von fünf Personen, die während der Odyssee an Dehydrierung starben oder verhungerten. Sieben Menschen werden vermisst. Nach Angaben der Überlebenden ließ die Besatzung des Fischerbootes sie glauben, dass sie nach Europa und in Sicherheit gebracht werden würden. Stattdessen wurden sie nach Libyen zurück geschleppt.
Am Mittwochnachmittag gaben die maltesischen Behörden (Link) öffentlich zu, den Einsatz koordiniert zu haben.
Alarm Phone, in Zusammenarbeit mit Sea-Watch und Mediterranea
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Der Notfall war den europäischen Behörden seit sechs Tagen bekannt. Nachdem das Boot am 10. April von Frontex aus der Luft gesichtet wurde (so die Pressemitteilung der Agentur vom 13. April), waren Malta, Italien und die EU (welche eine Mission im zentralen Mittelmeer betreibt) über die Situation informiert, die in der Nacht vom 10. auf den 11. April auch von Alarm Phone gemeldet wurde.
Obwohl die libyschen Behörden mit Malta und Italien in Kontakt stehen, wie sie dem Alarm Phone am Morgen des 11. April telefonisch bestätigten, gab es keine Koordination und damit kein zusammenhängendes Eingreifen, um den Menschen in der fast 72-stündigen Tortur auf See zu helfen. Dies ist ein Verstoß gegen das internationale Seerecht (d.h. Punkt 3.1.9 des SAR-Übereinkommen von 1979).
Die Aufgabe der Staaten, sich dem Schutz des menschlichen Lebens auf See zu verpflichten, darf unter keinen Umständen ausgesetzt werden, selbst wenn der Rettungseinsatz außerhalb des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs eintritt (IMO-Richtlinien über die Behandlung von Personen, die auf See gerettet werden, Abs. 6.7).
In einer offiziellen Pressemitteilung der maltesischen Regierung am 15. April erklärt Malta, die verspätete Koordinierung des Rettungseinsatzes übernommen zu haben, indem es in der Nacht vom 13. auf den 14. April eine NAVTEX-Meldung herausgab, in der es hieß, dass das Land keinen sicheren Hafen zur Verfügung stellen würde, was einen Verstoß gegen den oben genannten Rechtsrahmen darstellt.
Durch die Entscheidung, keine Rettungsaktion durchzuführen und keine Anlandung an einem sicheren Ort zu gewähren, ist die maltesische Regierung verantwortlich für die Erleichterung der illegalen Rückführung der in Not geratenen Menschen aus der maltesischen Such- und Rettungszone nach Libyen. Damit verletzt Malta Artikel 33 der Genfer Konvention, Artikel 2 und 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Artikel 19 der EU-Charta der Grundrechte.