Lion plädiert für mehr humanitären Radikalismus
Lion Kircheis sitzt mit einem Kaffee in der Küche des Sea-Watch Büros Berlin. Eigentlich ist gleich Feierabend, aber wahrscheinlich macht er wie immer länger. Die Aussicht auf Überstunden bringen den 23-jährigen Politikwissenschaftler jedenfalls nicht aus der Ruhe: „Wenn man etwas macht, hinter dem man wirklich steht, ist die Motivation viel stärker. Ich habe ja Bock, hier etwas zu bewegen.“ Sein sechsmonatiges Praxissemester absolviert Lion komplett ehrenamtlich. Das funktioniert nur, weil er gespart hat – und weil seine Eltern und Großeltern ihn bei seinem Engagement finanziell unterstützen.
„Für mich ist es schwer, mit dieser Gleichgültigkeit in der Gesellschaft und in Europa klarzukommen. Du siehst die Zahlen: Letztes Jahr sind mehr als 5000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Würdest du sie nebeneinanderlegen, wäre das eine Strecke von 2,5 Kilometern. Man würde also fast eine Stunde an den Toten entlanglaufen. Wie können die Leute das ignorieren?“ Es müsse wohl daran liegen, dass in Deutschland alles in Ordnung sei, vermutet Lion: „Das Mittelmeer ist weit weg.“
Seit dem ersten Semester hat er in Konstanz mit Geflüchteten gearbeitet, hat sie zum Amt begleitet oder selbstangebautes Gemüse auf Partys gegrillt. Die Seenotrettung war für Lion schon als Kind ein Thema: 2004 rettete die Initiative deutscher Notärzte „Cap Anamur“ 37 Menschen aus Seenot. Teile der Crew wurden daraufhin wegen Beihilfe zur illegalen Einreise festgenommen. Für Lion bleibt eine Frage bis heute zentral: „Wie kann es in einem Rechtsstaat so weit kommen?“
Bei Sea-Watch hat Lion eine Möglichkeit gefunden, selbst etwas gegen die Tragödie im Mittelmeer zu unternehmen. In Berlin unterstützt er vor allem das Büro in allen administrativen Aufgaben. Er beantwortet beispielsweise Anfragen an das Postfach info@sea-watch.org. Dabei kriegt er auch als Erster den Hass der Wutbürger zu spüren. Beschimpfungen wie „Kanaken-Schleuser“ lassen Lion kalt…
Es berührt ihn mehr, Post von Unterstützer*innen wie der 90-jährigen Dame aus dem Pflegeheim zu lesen. „Macht weiter so, es braucht mehr Leute wie euch!“ Genau – es braucht Leute wie Lion! Für die Advocacy Gruppe des Vereins ist Lion genauso eine große Bereicherung wie für das Kampagnen Team. Auf seinen Recherchen basieren Vorträge und Pressemitteilungen, etwa wenn es um die Menschenrechtssituation in Libyen und Tunesien geht: Er analysiert, was passiert, wenn Menschen in diese Länder zurückgeschickt werden. Gibt es dort überhaupt ein Asylsystem? Inwieweit ist die Libysche Küstenwache mit Schleppern verstrickt? Anfang des Jahres hat Lion im Basiscamp auf Malta dabei geholfen, das Schiff für die neue Saison vorzubereiten. „Langweilig wird es nie, die Arbeit hier ist echt abwechslungsreich.“
Das Jahr 2017 wird seiner Meinung nach ziemlich spannend. Es gibt schon jetzt mehr Gegenwind und Vorwürfe der Schlepperei durch Frontex. Zudem stehen Wahlen in Europa an, nach denen sich die rechtliche Lage für die NGOs im Mittelmeer verschärfen könnte. Deshalb wünscht sich Lion mehr „gesellschaftlichen Backup“, denn ohne die NGOs würden Menschenrechte im Mittelmeer wahrscheinlich noch stärker missachtet. „Man kann rechtem Radikalismus nur mit humanitärem Radikalismus begegnen“, sagt Lion zwar selbstbewusst, aber immer mit einem Zwinkern im Auge. Nach Abschluss seines Bachelors will er so schnell wie möglich zurück nach Berlin – und mit aufs Schiff, um mit seiner Kamera die Lage an Europas Grenzen selbst zu dokumentieren.
Foto: Theresa Leisgang