Italien hat einen Verhaltenskodex entworfen, dem alle NGOs folgen sollen, die im Mittelmeer Flüchtende und Migrant*innen aus Seenot retten. Heute wird in Rom über den Vorschlag dieses Verhaltenskodex‘ verhandelt. Dr. Violeta Moreno-Lax (Queen Mary University of London), eine ausgewiesene Expertin des EU-Asylrechts, erklärt im Sea-Watch Interview, warum viele der Klauseln „entweder überflüssig oder einfach rechtswidrig“ sind.
Sea-Watch: Vielleicht könnten wir mit den Klauseln beginnen, die Ihrer Ansicht nach illegal sind. Welche Punkte würden Sie besonders hervorheben?
Violeta Moreno-Lax: Eine Klausel besagt, dass Italien die Befugnis hätte, die Häfen zu schließen, wenn die NGOs sich weigerten, den Verhaltenskodex zu unterschreiben. Dies würde nicht nur gegen das Seegesetz, sondern auch wider die Nicht-Zurückweisung im Rahmen des internationalen Flüchtlingsrechts und das Recht auf Leben nach den internationalen Menschenrechten gehen. Nur NGOs sind verpflichtet, diesen Code zu unterzeichnen, nicht kommerzielle Schiffe, Fischer oder Kriegsschiffe in EUNAVFOR Med oder Frontex Operationen: Such- und Rettungspflichten sind aber für jeden Kapitän unter allen Umständen verbindlich. Die NGOs zu diskriminieren, weil sie Flüchtende und Migranten an Bord haben, verstößt gegen die Pflicht zur Unterstützung, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder dem Status der betroffenen Personen bereitgestellt werden muss.
SW: Das heißt also, dass das ganze Dokument unrechtmäßig ist, wenn es ein Verstoß gegen italienisches Gesetz ist, die NGOs zur Unterschrift zu zwingen?
VM-L: Der Kodex ist geradezu schizophren. Auf Seite 1 heißt es, dass der Schutz des menschlichen Lebens das Hauptanliegen der italienischen Behörden ist. Wenn das stimmt, dann sollte aber die Hälfte von dem, was sie vorschlagen, gar nicht vorgebracht werden. Entweder erfüllt Italien die internationalen Konventionen und ermöglicht daher den Zugang zu seinen Häfen, wenn es um die Vollendung einer Rettung geht, oder es sieht bewusst davon ab, wenn die NGOs dem Kodex nicht zustimmen. Aber das würde den italienischen Staat in den Widerspruch zu seinen internationalen Verpflichtungen stellen. Dies ist ein Oxymoron: Italien kann nicht gleichzeitig seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen, während es NGOs verpflichtet, sich an den Kodex zu halten.
SW: Gibt es eine Möglichkeit, die Verpflichtung zur Unterstützung, z. B. den Punkt, dass die NGOs in keiner Situation in libysche Gewässer eindringen dürfen, gesetzlich zu begrenzen?
VM-L: Nein. Die Verpflichtung zur Rettung von jeder Person in Seenot gilt überall auf See, das ist im UN-Abkommen über das Seerecht ‚UNCLOS‚ geregelt. Ob wir da über territoriale Gewässer eines Küstenstaates oder die hohe See sprechen, es ändert sich nichts. Darüber hinaus verfügt Italien nicht über die Gerichtsbarkeit über die Libyschen Hoheitsgewässer. Sie können nicht über das Küstengebiet eines anderen Landes ein Einreiseverbot verhängen. Und Rettungs-NGOs sind nur in libysche Territorialgewässer eingetreten, wenn die Situation eine „offensichtliche Gefahr für das menschliche Leben“ derstellte, also genau die Einschränkung, die der Kodex für das Verbot vorschlägt. Und damit wäre dies völlig überflüssig – der einzige Grund, warum SAR NGOs in libysche Gewässer fahren, ist, Menschen in Not zu helfen. Ich denke, Italien versucht hier, den gesetzlichen Standard der „Not“ neu zu interpretieren, der die Pflicht zur Unterstützung beinhaltet. Aber Italien kann nicht einseitig das Völkerrecht oder das EU-Recht verändern. “Seenot” wurde bereits für die Zwecke der Frontex-geführten Operationen rechtlich definiert, basierend auf Faktoren wie Überfüllung, fehlende Versorgung und dem Fehlen einer fähigen Crew.
SW: Nur um das nochmal klarzustellen: Könnte die gesetzliche Definition von ‚Seenot‘ einfach durch die Tatsache erfüllt sein, dass diese Boote nicht seetüchtig sind?
VM-L: Ja, und das ist auch nicht nur meine persönliche Perspektive, vielmehr wird “Seenot” in Artikel 9 der Verordnung 656/2014 für die Frontex-geführten Operationen eben genau so definiert. Außerdem gibt es eine Fülle von verschiedenen Bedingungen zu berücksichtigen, die nicht nur kumulativ wirken. Zum Beispiel wäre die Schwelle zur “Seenot” bereits deutlich früher erreicht, wenn wir über die Anwesenheit von Kleinkindern oder Leichen auf dem Migrantenboot sprechen. Seenot ist kontextuell. So müssen nicht alle in Artikel 9 aufgezählten Bedingungen erfüllt sein – manchmal genügt nur eine. Die Überfüllung des Bootes bei bedrohlichen Wetterbedingungen oder gefährlichem Seegang könnte an sich genügen, die Schwelle zur “Seenot” zu erreichen.
SW: Sie haben zuvor das “Prinzip der Nicht-Zurückweisung” erwähnt. Gibt es spezifische Umstände, die gegen dieses Prinzip verstoßen – wie das Verbot, Rettungen der libyschen Küstenwache zu behindern?
VM-L: “Non-Refoulement” ist ein Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts: es ist nicht abhängig davon, ob ein Land bestimmte Rechtsinstrumente ratifiziert hat oder nicht. Es geht dabei um das Verbot Menschen, die vor Verfolgung fliehen und um ihr Leben fürchten, in unsichere Orte zurück zu bringen. Ich glaube nicht, dass es aus legaler Perspektive als “Rettung” qualifiziert werden kann, was Libyen oder die libysche Küstenwache tut. Rettung erfordert Ausschiffung an einen “sicheren Hafen”, wo Menschenrechte gesichert sind. Rückführungen durch libysche Behörden auf libyschen Boden, wo Migranten eine Behandlung droht, die im Widerspruch zum Folterverbot steht, kann schon definitionsgemäß nicht als Rettung betrachtet werden. Diese Klausel ist absolut unsinnig, einerseits weil die Behinderung von Rettungen tatsächlich genau umgekehrt passiert – es gibt Videomaterial von mehreren Vorfällen, die zeigen, wie die libysche Küstenwache Rettungseinsätze behinderten – andererseits weil Italien und die EU-Behörden keineswegs mit einem Regime kooperieren sollten, das weithin für seine Misshandlungen bekannt ist.
SW: Ein weiterer Punkt, der von Hilfsorganisationen kritisiert wurde, wäre die Bedingung, Polizeibeamte an Bord zu nehmen. Wäre das eine rechtmäßige Forderung?
VM-L: Wenn Italien die Palermo-Protokolle zum Menschenhandel einhalten will, sind die darin geregelten Durchsuchungsbefugnisse auf Fälle beschränkt, in denen das betreffende Schiff verdächtigt wird, an der Straftat des Schmuggels und des Menschenhandels beteiligt zu sein. Das wäre das Schiff der Migranten, nicht das Rettungsschiff. NGO-Schiffe sind hier außen vor. Es sei denn, es gibt eine gerichtliche Anordnung, die die Handlung der Polizei unterstützt. Das kann zum Beispiel ein begründeter Verdacht der Beteiligung an der Kriminalität sein, es sollte jedoch kein Eingreifen der italienischen Behörden in diesem Sinne geben. Das würde weit über das in Artikel 110 des UNCLOS festgelegte Recht auf Durchsuchung hinausgehen, und es wäre sicherlich nicht vereinbar mit den Durchsuchungs der Palermo-Protokolle.
SW: Amnesty International hat gesagt: „Paradoxerweise könnte der vorgeschlagene Verhaltenskodex für NGOs, die Menschen im Mittelmeer retten, Leben gefährden.“ Was wären die humanitären Konsequenzen dieses Kodex‘, wenn er in die Praxis umgesetzt würde?
VM-L: Es gibt drei Klauseln, die aus operationeller Sicht sehr, sehr gefährlich sind. Man betrachte das Verbot, gerettete Menschen auf ein anderes Schiff zu transferieren. Das würde jede NGO verpflichten, jedes Mal den langen Weg ans Festland zurück zu legen, um die Geretteten in Sicherheit zu bringen, anstatt sie im Einsatzgebiet auf größere Schiffe zu bringen. Allerdings vermeiden neuerdings Frontex- und EUNAVFOR-Einheiten genau das Gebiet, wo die meisten Seenotfälle passieren. Falls diese Vorschrift also durchgesetzt würde, könnte es Gerettete erneut in Lebensgefahr bringen – da im Einsatzgebiet zu jedem Zeitpunkt weniger Rettungsschiffe vor Ort wären. Es könnte auch kleinere NGO-Boote gefährden, selbst in Seenot zu geraten.
Zweitens ist die Verpflichtung, keine Telefonkommunikation oder Lichtsignale zu senden, kontraintuitiv. Das ist nicht verboten. Ganz im Gegenteil: Die Kommunikation ist notwendig, um der Pflicht nachzukommen, Leben auf See zu retten. Es ist bereits in Artikel 9 der Verordnung 656/2014 kodifiziert worden. In Absatz 2 g) gibt es einen Punkt, der die Marineeinheiten, die an SAR-Vorfällen in Frontex-koordinierten Operationen beteiligt sind, verpflichtet, „alle geeigneten Maßnahmen“ zu ergreifen, um die Sicherheit derjenigen zu gewährleisten, die gerettet werden müssen. Eine gutwillige Lesearte dieses Artikels bedeutet, dass man einen Anruf tätigen und sich selbst sichtbar machen muss. Wenn NGOs dies tun, erfüllen sie logischerweise einfach die Pflicht, Leben auf See zu retten, so gut sie es können.
SW: Der Verhaltenskodex kommt inmitten der Anschuldigungen von italienischer Seite, dass die NGOs mit Schleppern zusammenarbeiten. Können Sie aus rechtlicher Perspektive etwas über diese Anschuldigungen sagen?
VM-L: Es gab zu keiner Zeit Beweise und es wurden keine formellen Strafen gegen irgendeine NGO verhängt. Es gab tatsächlich im April 2017 eine Untersuchung des Verteidigungsausschusses des italienischen Senats, die keine Verbindung zwischen den Aktivitäten der NGOs und denen der Schlepper fand. Es gab zudem Anschuldigungen des Vorsitzenden von Frontex, Herr Leggeri, die er später jedoch bestritt. Es gibt einen Brief von Herrn Leggeri an einige Mitglieder des europäischen Parlaments, in dem er schreibt, dass seine Worte missverstanden worden seien und dass er eigentlich meinte, dass die Schlepper sich darauf eingestellt haben, dass NGOs nahe der libyschen Hoheitsgewässer unterwegs sind. Aber die Tatsache, dass diese dort sind, ist nur eine Antwort auf die entstandene Lücke durch den Rückzug von „Mare Nostrum“ durch die italienische Küstenwache selber – meiner Meinung nach ein gesetzwidriger Rückzug, da Küstenstaaten nach Artikel 98 der UNCLOS zur Unterhaltung eines „angemessenen und und wirksamen Such- und Rettungsdienstes“ verpflichtet sind. Auch diejenigen, die die NGOs der Absprache bezichtigten, haben ihre Aussagen zurückgenommen. Es gibt zur Zeit niemand erwähnenswerten, der ernsthaft die Ansicht vertritt, dass diese Behauptungen stichhaltig sind und es gibt keine legalen Beweise für diese.
SW: Was würden Sie Italien und anderen EU-Staaten raten, damit sie ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen?
VM-L: Es ist eine vollkommene Überarbeitung des Dubliner Abkommen von Nöten. Durch die Regel des Dubliner Abkommen, dass das erste Land der Einreise das Zuständige ist, wird das von- Bord-gehen der Auslöser in einer Kette von Verpflichtungen bezüglich der Aufnahme und Bearbeitung von Asylangträgen. Dass 80% über Italien in die EU einreisen geht gegen das Solidaritätsprinzip in Artikel 80 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Die Verhandlung bezüglich einer Reform des Dublin Abkommens sollte eine vollkommenen Überarbeitung des Prinzips der ersten Einreise beinhalten. Würde dies geschehen, wäre die Situation Italiens deutlich einfacher. Ein weiterer Teil des Puzzles ist die sichere Einreise, für die Sea-Watch und weitere NGOs sehr aktiv Kampagnen betreiben. Die sichere Einreise ist essentiel. Menschen wählen die Route über das Meer, da dies der einzig gebliebene Weg ist, um Sicherheit in Europa zu erlangen. Es gibt keine Visa, um Asyl zu beantragen – die einzige Möglichkeit für Schutzsuchende, Europa zu erreichen, sind die Schleuser. Darum ist das, was dort auf dem Meer passiert, eine von uns geschaffene Tragödie. Es ist eine Krise, die nicht existieren sollte. Würde man die NGOs, anstatt sie zu kriminalisieren, an den Verhandlungstisch einladen – als Teil der Lösung, nicht des Problems – würde dies ein sehr starkes Signal an die Öffentlichkeit senden. Ein Signal an diejenigen, die auf die Rettung auf See angewiesen sind, und die Basis schaffen, um die europäische Position mit dem internationalen Gesetz in Einklang zu bringen.
Interview: Sasha Ockenden (Sea-Watch)