5 Jahre Sea‑Watch

Kein Grund zu feiern

Video: 5 Jahre Sea-Watch – Ein Blick hinter die Kulissen

HILF MIT, DIE ZIVILE SEENOTRETTUNG ABZUSCHAFFEN

Vor fünf Jahren, am 20. Juni 2015, verließ die M/S Sea-Watch zum ersten mal den Hafen von Lampedusa in Richtung ihres Einsatzgebietes vor der libyschen Küste. Das Ziel war klar: Boote finden, Menschen retten, staatliche Behörden zum Eingreifen bewegen. Mit der Forderung nach staatlicher Seenotrettung und sicheren, legalen Einreisewegen in die Europäische Union (#SafePassage) wollten wir dem Sterben im Mittelmeer ein Ende bereiten und unsere eigene Organisation so schnell wie möglich überflüssig machen.

Seither hat sich viel verändert, nur leider nicht zum Guten: Europa hat dicht gemacht – noch dichter als 2015 – und hält sich Menschen auf der Flucht um wirklich jeden Preis vom Hals. Eine sogenannte Libysche Küstenwache verschleppt Menschen im Auftrag der EU zurück in Lager, in denen ihnen Folter, Vergewaltigung und Sklaverei drohen. Malta deponiert Menschen unter haarsträubenden Bedingungen auf Ausflugsbooten, eine Meile außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer. Von den unwürdigen Camps auf den griechischen Inseln ganz zu schweigen… Es wird Zeit, dass sich was ändert! Und dazu braucht es jede:n von uns.

Rückblick

Fünf Jahre No Borders Navy

Fünf Jahre im Einsatz. Rund 40.000 Menschen gerettet. Vier Schiffe, zwei Flugzeuge, 700 Aktivist*innen, ein abgesägter italienischer Innenminister – und immer noch nicht zufrieden. Warum eigentlich? Zeit für einen Rückblick, den wir am Besten dort anfangen, wo die nicht enden wollende Krise im Mittelmeer ihren Ursprung hat: Mitte der 1970er Jahre.

Nachdem sich Europa nämlich, in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, aufgrund des Wiederaufbaus und eines kriegsbedingten Mangels an “Manpower”, stark auf die Immigration günstiger Arbeitskräfte verlassen hatte, bereitete der Ölschock 1973 der Offenheit ein jähes Ende. Die Reaktion vieler Staaten auf die Wirtschaftskrise bestand unter anderem darin, diese Arbeits-Immigration zu erschweren. Das legte nicht nur den Grundstein für die heutige europäische Grenzpolitik, sondern auch für ein Phänomen, das zu Zeiten legaler Einreisewege keinen Sinn gemacht hätte; die sogenannte “illegale Migration” und das Schmuggelgeschäft.

Seit Mitte der 1970er haben weit mehr als 2,5 Millionen Menschen das Mittelmeer ohne Einreisepapiere überquert. Über 20.000 haben die gefährliche Reise allein in den letzten sechs Jahren mit ihrem Leben bezahlt. Sämtliche Interventionen seitens der EU setzen jedoch auf weitere Abschottung – auf die Strategie also, mit der das ganze Schlamassel erst begonnen hat.

2015 – 2016

Eine zivile Flotte

Ende 2014 fand sich in Norddeutschland ein kleiner Kreis bürgerlicher Aktivist:innen[1] um den Bekleidungshändler Harald Höppner zusammen. Sie wollten dem “Versagen der EU” – so die anfängliche Analyse – nicht länger zusehen, und so wurde von 60.000 Euro aus Haralds Privatvermögen ein fast 100 Jahre alter Fischkutter gekauft. Am 20. Juni 2015,[2] dem World Refugee Day, setzten wir mit der M/S Sea-Watch von Lampedusa aus erstmals Segel in Richtung des Such- und Rettungsstreifens (oder SAR-Zone) vor der libyschen Küste. Bereits ein knappes halbes Jahr später folgte die zweite, parallel laufende Seenotoperation, mit Schnellbooten auf der griechischen Insel Lesbos. In nur fünf Monaten konnten dort, inmitten des ‘langen Sommers der Migration’ knapp 4000 Menschen aus Seenot gerettet werden.

 

Video: Sea-Watch Lesbos

 

Im ersten Jahr noch als Held:innen gefeiert, erlebte die zivile Flotte 2016 ihre Blütezeit: Zur Sea-Watch und den zwei Schiffen von Médecins Sans Frontières (MSF), Dignity 1 und Burbon Argos, gesellten sich bald die Aquarius von SOS Mediterranée, die Sea-Eye, die Astral von Proactiva Open Arms und die Iuventa von Jugend Rettet. Später schlossen sich auch die niederländische Boat Refugee Foundation und Save the Children an. Wir mussten derweil einsehen, dass unser ursprünglicher Plan, durch Monitoring ein verstärktes Eingreifen europäischer Behörden zu bewirken, nicht aufging. Daher tauschten wir die Sea-Watch (1) gegen die deutlich größere und einsatztauglichere Sea-Watch 2 ein. Die Sea-Watch (1) zur Menschenrechts-Beobachtung in die Ägäis verlegt und 2017 an Mare Liberum übergeben.

 

Video: Sea-Watch 2 – Erste Mission

2017

Der Wind dreht

Zu Beginn des Sommers 2017 befand sich die zivile Flotte mit dreizehn Schiffen und unserem neuem Flugzeug Moonbird auf ihrem Höhepunkt. Statt sich von uns unter Druck setzen zu lassen, zogen sich Europas Behörden beständig weiter aus der Affäre[3] und überließen ihren neuen Türstehern,der sogenannten Libyschen Küstenwache, das Feld:

Und die nahmen ihren Job durchaus Ernst: Bereits am 24. April 2016[4] hatten bewaffnete Milizionäre die Sea-Watch 2 bedroht und geentert, bevor sie Schiff und Besatzung am 10. Mai 2017 durch ein halsbrecherisches Manöver vor dessen Bug erneut gefährdeten.

 

Video: Libysche Küstenwache bringt Flüchtende und Retter in Gefahr

 

Im August beschossen sie die Bourbon Argos und enterten diese, im September entführten sie das Schnellboot Speedy inklusive Besatzung nach Libyen (die Crew kam kurz darauf wieder frei, das Boot nicht). Im November schließlich bedrängte das Patrouillenboot Taleel 267 sogar versehentlich die deutsche Marine-Fregatte Mecklenburg-Vorpommern.

Während die sogenannte Libysche Küstenwache bekanntermaßen regelmäßig mit Menschenschmugglern kooperierte[5], beschuldigte im ersten Halbjahr 2017 ein italienischer Staatsanwalt auch die zivile Seenotrettung einer solchen Zusammenarbeit. Dankend aufgegriffen wurde diese, bis heute unbelegte, Behauptung vom damaligen österreichischen Außenminister Sebastian Kurz („Es gibt NGOs, die gute Arbeit leisten, aber auch viele, die Partner der Schlepper sind.“). Auch die beiden damaligen italienischen Oppositionsparteien Movimento 5 Stelle (M5S) und die rechtsradikale Lega, die, ziemlich genau ein Jahr später, eine gemeinsame Regierung bilden würden, machten sich diese These zunutze.

Sommer 2017 – 2018

Der Crackdown

Auf diesem Fundament versuchten italienische Behörden im Juli 2017, uns zur Unterzeichnung eines umstrittenen Verhaltenskodex zu drängen. Dieser sollte uns unter anderem zwingen, Polizist*innen an Bord zu nehmen. Am 2. August, nur zwei Tage nachdem sich Jugend Rettet geweigert hatte, diesen “Code of Conduct” zu unterschreiben, wurde ihr Schiff, die Iuventa, am 2. August 2017[6] in Italien wegen der angeblicher Kooperation mit Schmugglern[7] beschlagnahmt. Einige andere NGOs zogen daraufhin ihre Schiffe aus dem Mittelmeer ab. Gegen Teile der Iuventa-Crew[8] wird bis heute ermittelt.

Die sogenannte Libysche Küstenwache, die bereits seit 2016 durch die EU-Marinemission Sophia trainiert und mit EU-Geldern gefördert worden war, nutzte die Gunst der Stunde: Italien hatte ihnen Patrouillenboote zur Verfügung gestellt und – lange Zeit ein offenes Geheimnis – sogar ein italienisches Kriegsschiff als Koordinierungs-Zentrale im Hafen von Tripolis stationiert. Nun begann die italienische Seenotrettungs-Leitstelle (MRCC Rom) den Libyern aktiv Seenotfälle zuzuweisen und gleichzeitig NGO-Schiffe zur Zurückhaltung zu drängen. Italien und die EU umgingen mit diesem Vorgehen das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention und lagerten den Völkerrechtsbruch an die Libyer aus.[8] Während der ersten Mission unserer Sea-Watch 3 führte diese Ermächtigung der libyschen Milizen schließlich zur größten Katastrophe unserer Vereinsgeschichte: Wie viele Menschen durch das brutale Eingreifen eines libyschen Patroullienbootes in unseren laufenden Rettungseinsatz 6. November 2017 ums Leben kamen, können wir bis heute nicht mit Sicherheit sagen.

 

Video: Interview mit Einsatzleiter Johannes Bayer zum Vorfall am 06. November 2017

 

Und dann kam die Zeit der geschlossenen Häfen: Am 10. Juni 2018[9] schloss der italienische Innenminister und Vize-Premier Matteo Salvini, nach gerade mal seit 10 Tagen im Amt – via Twitter – die Häfen des Landes für die Aquarius. Die darauffolgende 8-tägige Irrfahrt mit 629 Geretteten nahm im spanischen Valencia ihr Ende. Während kurz darauf die Lifeline vor Malta in einer ähnlichen Situation feststeckte, schalteten sich die Niederlande erstmals ein – und entzogen der Lifeline (sowie Sea-Eye und Seefuchs) ihre Flagge. Malta beschlagnahmte daraufhin das Schiff, leitete ein Verfahren gegen den Kapitän ein und nahm unsere Sea-Watch 3 und Moonbird gleich mit in Sippenhaft.

2018 – 2019

Blockade-Union Europa

Als sämtliche geforderten Überprüfungen der Sea-Watch 3 einen knappen Monat später bestanden waren, wurde das Schiff trotzdem weiter festgehalten. Erst am 20. Oktober 2018[10] konnte das Schiff den Grand Harbour Maltas in Richtung einer spanischen Werft verlassen; nach fast vier Monaten Blockade, in denen über 500 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken waren. Aber es waren auch vier Monate, in denen Zehntausende unter dem Banner der Seebrücke[11] und der solidarischen Städte gegen das Sterben im Mittelmeer auf die Straßen gegangen und, mit unserer Unterstützung, der erste italienische zivile Rettungskreuzer in den Einsatz aufgebrochen war: die Mare Jonio[12] der linken Plattform Mediterranea.

Mitte Dezember erreichte unsere Sea-Watch 3 wieder das Einsatzgebiet, rettete am 22. Dezember 2018[13] zweiunddreißig Menschen und landete mit ihnen im bislang längsten Stand-Off mit Europa: 19 Tage “lungerten” wir vor der Küste Maltas herum (wie es die maltesische Küstenwache beschrieb), bis sich die 28 EU-Staaten auf eine Verteilung der 32 Geretteten einigen konnten.

 

Video: Sea-Watch 3 Standoff – Es ist vorbei

https://www.facebook.com/seawatchprojekt/videos/2062408510518600/

 

Ein beschämendes Gefeilsche, das in den darauffolgenden Monaten, oft kombiniert mit einer mehrwöchigen Beschlagnahmung des Schiffs durch Italien, zur kräftezehrenden Normalität werden würde: Zehn solcher, teils wochenlanger, Pattsituationen standen Mediterranea, Sea-Eye und wir bis zum August 2019 durch. Kaum ein anderes Schiff brachte in diesem Zeitfenster der vermeintlich geschlossenen Häfen Gerettete in die sicheren Häfen Europas, abgesehen von glorreichen Einzelgängen wie dem der Asso 25, und – mehr oder weniger freiwillig– der El Hiblu 1.[14]

Sommer 2019

Die Rückkehr der Rettungsschiffe

Der Höhepunkt kam Ende Juni 2019[15], als Matteo Salvinis neues „Sicherheitsdekret“ just in dem Moment in Kraft trat, als sich die Sea-Watch 3 mit 52 Überlebenden an Bord den italienischen Hoheitsgewässern näherte. Die unerlaubte Einfahrt in eben diese sollte das Dekret unter Strafe stellen, was unsere Kapitänin Carola Rackete nicht davon abhielt, ihrer Verantwortung für die Überlebenden an Bord gerecht zu werden.[16]

 

Video: Juni 2019 – Die Kapitänin spricht

https://www.facebook.com/seawatchprojekt/videos/330413844541398/

 


Parallel segelten unsere Freund*innen von Open Arms, trotz Androhung hoher Geldstrafen in Spanien und dem Salvini-Gesetz, erneut ins Einsatzgebiet, dicht gefolgt von den zwei neuen Rettungsschiffen Ocean Viking und der Eleonore. Insgesamt retteten die drei Schiffe in wenigen Tagen des Augusts über 600 Menschen. Am 28. August 2019 wurden Salvini und seine Lega, durch eine überraschende Regierungskoalition von M5S und Sozialdemokraten, abgesetzt. Trotzdem lässt die politische Kehrtwende im Bezug auf die Seenotrettung in Italien weiter auf sich warten. Kein Wunder, schließlich war es auch eine sozialdemokratische Regierung, unter der die Iuventa beschlagnahmt und die sogenannte Libysche Küstenwache aufgerüstet wurde. Und kann sich doch jede italienische Regierung sicher sein, den Rest der EU stillschweigend im Rücken zu haben, wenn sie die Seenotrettung behindert.

Bevor die Sea-Watch 3 am 30. Dezember 2019[17] wieder in den Einsatz aufbrechen konnte, musste sie per Gerichtsurteil aus der Beschlagnahme gelöst werden. In zwei Einsätzen konnte das Schiff 2020 bereits über 300 Menschen retten, bevor die Corona-Krise auch unsere Operation (nicht aber unser Engagement: #LeaveNoOneBehind) für mehrere Wochen lahmlegte. Kurz zuvor hatten wir, dank der Unterstützung des Bündnisses United4Rescue[18], das deutsche Forschungsschiff Poseidon kaufen können, welches aktuell in Spanien zur Sea-Watch 4 ausgebaut wird. Denn trotz aller Widrigkeiten, von der Europapolitik bis hin zur globalen Viruspandemie: Wir haben keinerlei Ambition, aufzugeben, bevor wir nicht endlich überflüssig sind!