Am gestrigen Sonntag wurde die Besatzung des Suchflugzeuges Colibri erneut Zeuge eines drastischen Falles unterlassener Hilfeleistung durch italienische Behörden. Ein Schlauchboot mit über 80 Flüchtenden befand sich für über 9 Stunden in Seenot und wurde schließlich von der sogenannten Libyschen Küstenwache in das Bürgerkriegsland zurück geschleppt.
Um 10:43 Uhr lokaler Zeit, sichtete das zivile Suchflugzeug Colibri der französischen Organisation Pilotes Volontaires, in Zusammenarbeit mit Sea-Watch, ein Schlauchboot mit circa 80 Flüchtenden an Bord, etwa 21 Seemeilen vor Abu Kammash, Libyen. Die Menschen auf dem Boot befinden sich in akuter Gefahr für Leib und Leben, unter anderem, da die schlecht ausgestatteten, überladenen und seeuntauglichen Schlauchboote jederzeit kollabieren können. Auch laut der EU-Militärmission EUNAVFOR MED ist daher jedes Schlauchboot, das von der libyschen Küste ablegt, als akuter Seenotfall zu werten.
Die Flugzeugbesatzung informierte umgehend das Italian Maritime Rescue Coordination Center (IMRCC) in Rom über Position und Zustand des Bootes. Anstatt einen Rettungseinsatz in die Wege zu leiten, wozu jede Seenotrettungsleitstelle verpflichtet ist, verwies Rom die Flugzeugbesatzung jedoch an, das neu eingerichtete und meistens inaktive Headquarter der sogenannten libyschen Küstenwache. Dort wurde der Seenotruf der Colibri, auch auf mehrfachen Versuch der Crew, nicht entgegengenommen.
Ein Handelsschiff, das erst nach mehrmaliger Aufforderung durch die Besatzung dazu gebracht werden konnte, zum Boot in Seenot zu fahren, beobachtete die Situation, scheute sich jedoch einzugreifen, aus der berechtigten Befürchtung, es könne in eine ähnliche Situation kommen, wie zuletzt die zivilen Rettungsschiffe Aquarius und Lifeline, oder das italienische Küstenwachschiff Diciotti. Die Schiffe waren, nachdem sie vor der libyschen Küste Menschen aus Seenot gerettet hatten, in einem politischen Ping-Pong-Spiel hingehalten worden, in dem Italien und Malta sich teils wochenlang geweigert hatten, die Geretteten an Land zu nehmen. “Abgesehen von der Tatsache, dass Handelsschiffe nicht für Rettungen in diesem Umfang ausgerüstet und ausgebildet sind, ist es auch an diesem Punkt die EU-Politik, die eine Rettung blockiert. Ganz zu schweigen von den drei Rettungsschiffen, Lifeline, Sea-Watch 3 und Seefuchs, die hätten helfen können, würden sie nicht willkürlich in Malta festgehalten” sagt Johannes Bayer, Vorstand von Sea-Watch.
Gegen 20:00, nach über acht Stunden nach Bekanntwerden des Seenotfalls, wurden die Flüchtenden schließlich von einem Schnellboot der sogenannten libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück nach Libyen verschleppt. Die Überlebenden erwartet dort die illegale Inhaftierung in Lagern ohne Zugang zu medizinischer Versorgung und Verpflegung, in denen stattdessen Folter, Versklavung und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung sind.
“Die menschenverachtende Blockadehaltung europäischer Regierungen gegenüber der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer hat in diesem Fall erneut den Tod von über 80 Menschen billigend in Kauf genommen und sie schlussendlich der Rückverschleppung ins Bürgerkriegsland Libyen preisgegeben. Die EU ist folglich mitverantwortlich für die menschenunwürdige Behandlung, die ihnen dort zuteil wird. Ebenso wie sie Verantwortung trägt für die vermutlich über 100 Toten des letzten Bootsunglückes Anfang September, von dem die Welt nur zufällig erfuhr, weil Ärzte ohne Grenzen Zugang zu Überlebenden in Libyen bekommen konnte. Niemand weiß, wie viele Boote einfach untergehen, ohne dass irgendjemand davon Notiz nimmt” sagt Tamino Böhm, Einsatzleiter von Colibri.