Rachele ist Juristin und Teil des italienischen Teams von Sea-Watch. In den letzten zwanzig Monaten beobachtete sie, wie sich die migrationspolitische Lage seit der Amtsübernahme von Giorgia Meloni zuspitzt. Obwohl ihre im Wahlkampf angekündigte „Seeblockade“ dank geltendem internationalen Recht nicht möglich ist, gibt es großen Grund zur Sorge. Meloni schreckt vor nichts zurück, um Menschen auf der Flucht daran zu hindern, italienisches Festland zu erreichen.
Im Februar letzten Jahres verbreitete der tunesische Präsident Kais Saied Verschwörungstheorien gegen Schwarze Menschen und Flüchtende. Damit befeuerte er eine brutale Hetzjagd im ganzen Land. Unter anderem wurden 1.200 flüchtende Menschen von tunesischen Behörden in die algerische und libysche Wüste abgeschoben, wo viele von ihnen starben. Trotz dieser gewaltsamen Ereignisse nahm die EU im Juli 2023 Verhandlungen mit dem tunesischen Präsidenten auf und unterzeichnete eine Absichtserklärung mit dem Ziel, Migration über das Mittelmeer von Tunesien aus gewaltsam zu stoppen. Und als wäre das nicht schon zynisch genug, bezeichnet Meloni Tunesien als sicheren Ort für Geflüchtete. Somit will sie Pullbacks in ein Land legitimieren, in dem Flüchtende nicht geschützt, sondern verfolgt werden. Dieses Vorgehen zeigt auf bitterste Weise, dass es keine Scheu mehr vor Gewalt gibt, wenn es um Grenzkontrollen der EU geht.
Auch auf See verschärft Meloni die Situation: Aufgrund des seit Januar 2023 geltenden Piantedosi-Dekrets unterliegen wir weiteren Vorschriften, die Rettungsmaßnahmen behindern und Menschen in Seenot weiter gefährden. Mitunter müssen wir nach jeder Rettung direkt einen italienischen Hafen ansteuern – selbst wenn wir von weiteren Seenotfällen wissen. Dabei haben wir mehr Rettungskapazitäten: An Bord unserer Sea-Watch 5 ist viel Platz, wir haben Treibstoff, um länger im Suchgebiet zu sein und Ausstattung, um mehr Menschen aus Seenot zu retten. Die Anwendung des Piantedosi-Dekrets stellt einen klaren Verstoß gegen die Rettungspflicht dar, wenn wir von anderen Booten in Seenot wissen.
Auf die Spitze getrieben wird diese Regelung durch die Zuweisung weit entfernter Häfen. Während wir tausende von zusätzlichen Kilometern zurücklegen, wird die Präsenz von Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer drastisch verringert. Wenn wir nach Gründen zu dieser Praxis fragen, werden wir mit fadenscheinigen Antworten abgespeist: ein „Staatsgeheimnis“, mysteriöse Operationen der NATO, „öffentliche Interessen im Zusammenhang mit der Wahrung der nationalen und internationalen Beziehungen“ oder „zum Schutz südlicher Regionen“. Dabei sind mittlerweile mehrere Fälle bekannt, bei denen Menschen nach ihrer Ankunft in Häfen mit Bussen zurück in den Süden Italiens gebracht worden sind!
Auch an Land gibt es, in dieser Frequenz nie zuvor dagewesene, gesetzliche Verschärfungen. Denn mit dem sogenannten Cutro-Dekret hat die italienische Regierung 2023 die Rechte von Schutzsuchenden stark beschränkt. Es sieht schnellere Abschiebungen und wenig internationalen Schutz vor, dafür aber mehr Inhaftierungen in gefängnisähnlichen Lagern in und außerhalb Italiens. Hinzu kommt der fahle Beigeschmack, dass dieses Gesetz den Namen des Ortes trägt, vor dessen Küste im Februar 2023 ein verheerender Schiffbruch passierte – eine Tragödie, verursacht durch die italienische und europäische Abschottungspolitik.
Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit all unserer juristischen und politischen Expertise gegen diese unmenschliche Praxis vorzugehen. Es werden neue Gesetze und Dekrete kommen, die unsere Arbeit einschränken und Menschen auf der Flucht weiter gefährden. Wir müssen Wege schaffen, diese anzufechten und neue Lösungen finden, die unsere Präsenz auf dem Mittelmeer weiterhin ermöglichen!