Achuil hat zu viel gesehen für einen 16-Jährigen, aber an dem Tag als er mit mir aus der Inhaftierung im Erstaufnahmezentrum (IRC – Initial Reception Centre) in Marsa spricht, verliert seine Stimme nie einen hoffnungsvollen Ton. 2013, bei Ausbruch des anhaltenden südsudanesischen Bürgerkriegs, floh seine Familie aus ihrer Heimat in den Sudan. Aber Achuil konnte im Sudan keine Schule besuchen und seine Familie wurde diskriminiert. Angesichts möglicher Inhaftierungen im Sudan und der Einberufung in eine Miliz im Südsudan beschloss er, alleine nach Norden zu fliehen.
Achuils Zeit in Libyen liest sich wie eine Horrorgeschichte. Acht Jahre nachdem Rebellenkämpfer Muammar Gaddafi gestürzt haben, befindet sich Libyen nach wie vor im Bürgerkrieg. Die Regierung in Tripolis klammert sich an einen winzigen Teil des Landes. Unterdessen dominiert ein Geflecht von kriegsführenden Milizen die Region. Sie kaufen Waffen, schmuggeln Öl und Menschen, und betreiben Haftlager für Migrant*innen, in denen Vergewaltigung, Folter und Erpressung an der Tagesordnung sind. Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen sind erschütternd, allgegenwärtig und gut dokumentiert.
Achuil spricht von seiner Zeit in Libyen mit düsterer Resignation, ohne sich des Mutes und des Scharfsinns bewusst zu sein, den ein Kind brauchen muss, um allein durch dieses Kriegsgebiet zu navigieren. Für kurze Perioden arbeitete er und konnte dadurch seiner Familie Geld schicken. Oft wurde er nicht bezahlt. Körperliche Gewalt war an der Tagesordnung und die Gefahr von Inhaftierung, Folter und Erpressung war allgegenwärtig.
Bei Achuils erstem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, wurde er auf See von einem Schiff der sogenannten Libyschen Küstenwache (LCG) abgefangen, das wahrscheinlich von Abdelrahman al-Milad, bekannt als Bija, kontrolliert wurde. Bija ist ein Milizführer cum-LCG Kommandant, der von der UNO für Menschenhandel verurteilt wurde. Laut UNO ist die LCG-Einheit von Bija „konsequent mit Gewalt gegen Migrant*innen und anderen Menschenschmugglern verbunden“.
Die Streitkräfte der Libyschen Küstenwache brachten Achuil und seine Gefährten in die Haftanstalt Az-Zawiya. UN-Ermittler hielten die Bedingungen in der Haftanstalt für „unmenschlich“ und „nicht angemessen ausgestattet, um Migrant*innen unterzubringen“. Sie betonten auch, dass Frauen und Kinder in der Einrichtung unter „kritischen Bedingungen“ festgehalten werden.
Europäische Mitgliedsstaaten, Malta eingeschlossen, finanzieren und trainieren die Libysche Küstenwache und stellen ihr Vermögenswerte zur Verfügung. In dem Wissen, dass die Rückkehr von Menschen nach Libyen gegen internationale Gesetze verstoßen würde, haben die EU-Staaten diese Verantwortung an die LCG ausgelagert. Über die LCG finanziert die EU mit Steuergeldern Milizen entlang der libyschen Küste. Die Tatsache, dass diese Mittel wahrscheinlich für den Kauf von Waffen verwendet werden und dass LCG-Befehlshaber, Milizführer, Menschenhändler und -schmuggler ein und das selbe sind, ist angesichts von „Migrationsmanagement“ von geringer Bedeutung.
Finanziert von unseren Geldern wurde also Achuil, ein Kind in einem Kriegsgebiet, von einem Milizführer gewaltsam in eine Einrichtung gebracht, in der Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Angesichts drohender Erpressung und Deportation in den Südsudan schloss er sich einem Gefängnisausbruch an und floh aus Zawiya.
Bei seinem zweiten Versuch, das Mittelmeer zu überqueeren, drängten bewaffnete Männer in Militärkleidung Achuil auf ein überfülltes Schlauchboot. Innerhalb von 24 Stunden nach dem Auslaufen ging der Motor kaputt – das Boot und seine Insass*innen trieben am Meer dahin. Als alles hoffnungslos schien, tauchte der Umriss von zwei Sea Watch-Motorbooten am Horizont auf. Verängstigt vor einem weiteren Pushback nach Libyen waren alle Beteiligten „in diesem Moment sehr glücklich“, als sie erkannnten, dass es sich um europäische Seenotretter*innen handelte. Achuil dachte bei sich selbst: „Gott hat uns ein zweites Leben gegeben“.
Dieses zweite Leben war jedoch nicht einfach zu erreichen. Da alle europäischen Häfen für SAR (search and rescue) NGOs geschlossen sind, hat Sea-Watch vergeblich einen sicheren Hafen gefordert. Raue See zwang das Schiff, in maltesischen Hoheitsgewässern Schutz zu suchen. Die 19-tägige Blockade, die Schlagzeilen auf der ganzen Welt machte, braucht keinesfalls eine Wiederholung. „Europa war ein Traum für uns, aber als wir ankamen, haben sie uns auf dem Meer festgehalten und uns wie Tiere angesehen“, erinnert sich Achuil.
Menschen – von denen einige von ihnen Flüchtlinge nach strengster rechtlicher Definition sind – als Geiseln auf einem Schiff während rauem Seegang zu halten, während Europa um ihre Verteilung streitet, ist ethisch verwerflich. Achuil wurde mit seiner englischen und arabischen Sprachkompetenz als Übersetzer und Mediator zu einem zentralen Akteur an Bord. „Wir werdem die Sea Watch Leute nicht vergessen!“ sagt er. „Sie gaben uns Hoffnung. Sie versuchten, die Menschen stark zu halten.“
„Ich erinnere mich an die Momente, als ich in diesem Hafen war. Malta ist Europa. Das Wetter war sehr schlecht. Wir hatten Angst. Die Leute waren nicht sicher im Meer, aber wir wurden abgelehnt.“
Am 9. Januar genehmigten die maltesischen Behörden schließlich das Ausschiffen der „Gäste“ an Bord der Sea Watch 3. Achuil wurde sofort in das Erstaufnahmezentrum (IRC) Marsa überführt, wo er bis heute inhaftiert ist, ohne zu wissen, wann er freigelassen oder in ein anderes Land gebracht wird. „Als wir in das IRC kamen, änderte sich alles. Jetzt wo ich in Europa bin, möchte ich die Schule beginnen, um Arzt zu werden. Ich möchte Basketball spielen. Heute sind es 42 Tage. Unsere Träume sterben.“ (Gespräch am 18. Februar 2019)
„Mein Land ist nicht sicher. Ich hoffe, dass ich zur Schule gehen kann, auf eine gute Universität. Meine Tante hat Malaria. Die Ärzt*innen [im Sudan] haben nicht die Macht, diese Krankheit zu stoppen. Ich werde mein Bestes tun, um Arzt zu werden und meiner Nation zu helfen.“
Zum ersten Mal verstummt das Telefon. Ich bekomme einen Kloß im Hals und schwöre mir, dass ich nicht weinen werde, bis ich auflege. „Was willst du mich noch fragen?“ bricht er in diesen mit Ungerechtigkeit gefüllten Moment ein.
„Was willst du dem maltesischen Volk sagen, Achuil?“
„Sie sollen an die Leute denken, die in diesem Lager sind. Jede*r hier hat einen Traum. Betrachte ihn als dein Kind, deine*n Freund*in und gib ihm eine Chance. Vielleicht wird einer dieser Menschen eines Tages Arzt oder Ärztin und dir das Leben retten. Du weißt nicht, was Gott mit ihm vorhat. Denke mit deinem Herzen. So wie wir hier leben, ist das kein Leben. Ich weiß, dass die maltesischen Menschen gut sind. Gebt uns eine Chance. Und wir werden den maltesischen Menschen danken, wir werden uns daran ein Leben lang erinnern.“
„Wir sind schwarz, aber unsere Herzen sind dieselben wie eure.“
Daniel Mainwaring – Forscher für Außenpolitik und Sea Watch Freiwilliger
[Das Interview wurde am 19. Februar 2019 geführt]