Hallo Lea, du bist Teil des Autorinnenkollektivs mEUterei. Gemeinsam habt ihr das Buch „Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“ verfasst. Was steckt dahinter und wieso habt ihr euch entschieden, zusammen ein Buch zu schreiben?
Lea: Die »mEUterei« ist ein Kollektiv von Expertinnen, die sich seit Jahren gegen das europäische Grenzregime engagieren. Die mEUterei besteht aus Aktivistinnen, Fluchthelferinnen, Juristinnen, Migrations- und Politikwissenschaftlerinnen. Das Kollektiv setzt sich aktuell überwiegend aus weißen cis Frauen zusammen. Diese Positionierung zu benennen, erscheint uns aus einer machtkritischen Perspektive relevant. Wir selbst sind Teil der Gesellschaften, die zur Errichtung der Festung Europa geführt haben und diese aufrecht erhalten. Wir sind uns unserer Privilegien bewusst und können offen Kritik an den bestehenden kapitalistischen, rassistischen und (neo-)kolonialen Machtsystemen üben, ohne dafür nennenswerte Nachteile, Bedrohungen oder gar Schlimmeres befürchten zu müssen. Während des Entstehungsprozesses des Buches Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende haben wir – auch mithilfe befreundeter Antirassismus-Aktivist:innen – versucht, diese Privilegien zu reflektieren und unsere Perspektiven sowie Sprache dafür zu sensibilisieren. Als elementare Konsequenz dieser Privilegien sehen wir uns in einer besonderen Verantwortung, die Festung Europa zu kritisieren und zu bekämpfen, wo immer dies möglich ist.
Mit dem Buch versuchen wir, die Systematik hinter der europäischen Grenzgewalt aufzuzeigen: In den Medien und in Debatten wird von Toten im Mittelmeer, gewaltsamen Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze und über Abschiebeknäste in der ganzen EU als singuläre Ereignisse besprochen. Dieses Buch ist ein Versuch aufzuzeigen, dass diese rassistisch-koloniale Gewalt systematisch ausgeübt wird und strukturell verankert ist. Die an vielen Orten in der EU stattfindende Gewalt gegen Flüchtende muss gemeinsam gedacht und zueinander ins Verhältnis gestellt werden, um eine politische und gesellschaftliche Veränderung herbeiführen zu können.
In eurem Buch sprecht ihr vom „unerklärten Krieg der EU gegen Flüchtende“. Ihr wählt hier eine sehr deutliche Rhetorik. Warum ist es angebracht von einem systematischen „Krieg“ zu sprechen?
Lea: Dass jährlich hunderte Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit in Europa sterben, ist ein Resultat europäischer Politik. Es ist keine Naturkatastrophe sondern das Ergebnis von Entscheidungen, die in Berlin, Brüssel, Rom und in anderen Hauptstädten getroffen werden. Krieg ist per Definition ein “mit Waffen ausgetragener Konflikt”- und die Militarisierung und Aufrüstung an den europäischen Außengrenzen schreitet stetig voran. Das Budget der europäischen Grenzschutz Agentur Frontex ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, es wird auf Flüchtende geschossen und das fundamentale Menschenrecht auf Asyl ist inzwischen das Papier nicht mehr wert, auf dem es einst – auch als direkte Konsequenz aus den Verbrechen Deutschlands – geschrieben wurde.
Ihr bescheinigt das Ende der so oft hervorgehobenen „europäische Werte“. Was meint ihr damit und was bräuchte eine Gesellschaft eurer Meinung nach damit ihr Wertekompass in die richtige Richtung zeigt?
Lea: Europa rühmt sich, die “Wiege der Menschenrechte” zu sein, hat gar einen Friedensnobelpreis für die Wahrung jener erhalten. Dabei haben die letzten Jahrzehnte deutlich gezeigt, dass diese Rechte – obwohl als fundamental angepriesen – nicht für alle Menschen gleichermaßen gelten. Der strukturelle Rassismus in den Gesellschaften des globalen Nordens reicht weit in die sogenannte “bürgerliche Mitte” hinein. Er ist so tief verankert, dass wir beispielsweise das Leid und Sterben von Schwarzen Menschen als weniger relevant, als weniger grausam wahrnehmen und dementsprechend die Wut und Empörung über das systematische Sterbenlassen sehr gering ist. Die Entmenschlichung, die seit der Kolonialisierung von Schwarzen Menschen stattfindet, wirkt bis heute nach und führt im Ergebnis dazu, dass der Aufschrei über tausende Tote an unseren Außengrenzen ausbleibt.
Die Ausbeutung des Globalen Südens, seiner Natur und Menschen, sind die Grundlage des Reichtums des Nordens. Die Aufarbeitung der Kolonialisierung und dessen Kontinuitäten müssen thematisiert und überwunden werden. Eine gesamtgesellschaftliche Debatte über die Machtsysteme, welche zu der extremen Schere zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden führen, ist längst überfällig!
Um dies zu erreichen müssen neue Narrative geschaffen werden. Unsere Gesellschaft und jede:r Einzelne:r müssen eigene internalisierte Rassismen kritisch hinterfragen und reflektieren. Wir müssen uns mit dekolonialen und antirassistischen Kämpfen und Bewegungen zusammentun und so der grenzenlosen Gewalt, grenzenlose Solidarität entgegensetzen!