Die deutsche Bundesregierung hat durch ihren heute beginnenden EU-Ratsvorsitz die Chance, eine menschenrechtskonforme Migrationsagenda voranzutreiben – und damit den bloßen Lippenbekenntnissen, die in den vergangenen Jahren in Bezug auf Seenotrettung zum Besten gegeben wurden, Substanz zu verleihen. Sea-Watch fordert die deutsche Regierung auf, die Möglichkeiten, die sich im Rahmen ihres Mandats bieten, in den nächsten sechs Monaten voll auszuschöpfen und drei einfache Agendapunkte umzusetzen.
Marie Naaß, Leiterin der politischen Öffentlichkeitsarbeit bei Sea-Watch: “Anstatt die Krise der Humanität im Mittelmeer weiter aktiv voranzutreiben, muss die deutsche EU-Ratspräsidentschaft auf Menschenrechte setzen und entsprechend handeln. Schon die Einhaltung geltenden Rechts würde die Situation im Mittelmeer grundlegend ändern. Das massenhafte Ertrinken im Mittelmeer erfordert die Aktivierung des Krisenreaktionsmechanismus, um eine zivile Seenotrettungsmission zu ermöglichen. Statt des ungerechten Dublin-Systems braucht es eine menschenrechtsorientierte, solidarische Lösung auf EU-Ebene.”
Menschenrechte als zentrale Leitlinie für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
- GELTENDES RECHT EINHALTEN
Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten verstoßen im Mittelmeer fortwährend gegen geltendes Recht. Wir fordern die deutsche Ratspräsidentschaft auf, dafür zu sorgen, dass alle in der Ratspräsidentschaft bevorstehenden Gesetzesinitiativen und Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten mit geltendem Recht konform sind. Sie müssen sowohl die Grundprinzipien des Seerechts nach dem Seerechtsübereinkommen, der SAR1– und SOLAS2-Konvention, als auch die internationalen Menschen- und Flüchtlingsrechte, wie den Grundsatz der Nichtzurückweisung beachten. Letztere sind in der Genfer Flüchtlingskonvention, dem IPbpR3, der Antifolterkonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Gewohnheitsrecht verankert.
Die bloße Einhaltung bestehender Rechtsrahmen wirkt auf den ersten Blick wie keine besonders progressive Forderung. Sie würde die aktuelle Situation im Mittelmeer jedoch grundlegend verändern: die Unterstützung und Finanzierung der sogenannten libyschen Küstenwache müsste sofort eingestellt ; die unterlassenen Hilfeleistungen der EU-Mitgliedstaaten und die Komplizenschaft von EU-Agenturen bei Menschenrechtsverletzungen müsste auf kommenden Ratstreffen scharf verurteilt – und EU-Missionen im Mittelmeer wie IRINI müssten mit einem Mandat zur Rettung ausgestattet werden.
Jenseits der bloßen Einhaltung geltenden Rechts könnte die deutsche Ratspräsidentschaft einen Schritt weiter gehen und die Situation im Mittelmeer beim Namen nennen:
- AKTIVIERUNG DES KRISENREAKTIONSMECHANISMUS (IPCR)
Der Krisenreaktionsmechanismus der EU (IPCR) ist ein vom Rat der EU im Jahr 2013 genehmigtes Instrument, das die Europäische Union bei größeren natürlichen oder menschlich verursachten Krisen dazu befähigt, schnelle Entscheidungen zu treffen. Dieser Mechanismus würde auch der Ratspräsidentschaft eine Reihe einzigartiger Instrumente zur Koordinierung der Krisenreaktion auf höchster politischer Ebene zur Verfügung stellen. Wir fordern die deutsche Regierung daher dringend auf, das massenhafte Ertrinken von Menschen im Mittelmeer als “Krise“ zu definieren und die Finanzierung einer zivilen Seenotrettungsmission im Mittelmeer gemäß Artikel 214 AEUV zu ermöglichen.
- SOLIDARISCHE LÖSUNG AUF EU-EBENE SCHAFFEN
Die Reform des Dublin-Systems steht seit Jahren auf der Agenda der EU. Das bestehende Dublin-System wurde ins Leben gerufen, um einzelnen wenigen Mitgliedstaaten die Verantwortung zuzuweisen, anstatt ein Prinzip der Solidarität zu implementieren. 2017 verabschiedete das Europäische Parlament einen Dublin-Reformvorschlag, der der gängigen Praxis ein Ende setzen sollte – dieser Vorschlag wurde jedoch seither vom EU-Rat blockiert. Wir fordern die deutsche Ratspräsidentschaft auf, diesen Reformvorschlag wieder auf die Agenda der neuen Gesetzgebung zu setzen und ihre Hausaufgaben als Mitgesetzgebende zu machen – insbesondere im Hinblick auf den bevorstehenden Migrationspakt.