Die Gastkoordinator:innen an Bord unserer Schiffe sind während der Einsätze für das Wohlbefinden und die Sicherheit unserer Gäste zuständig – ein enormer Kraftakt bei bis zu 500 geretteten Personen. Ohne vorausschauende Planung bis ins Detail ist diese Aufgabe nicht zu meistern, denn während Missionen müssen alle Rädchen ineinander übergreifen.
Stell‘ dir eine Gruppe von etwa 350 Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen vor, einige mit Verletzungen und Traumata, andere noch zu jung, um auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Sie haben Schreckliches hinter sich, womöglich tagelang auf einem seeuntauglichen Schlauchboot ausgeharrt. Manche unter ihnen sind unterkühlt, seekrank, ausgehungert oder haben Verbrennungen von der gefährlichen Mischung aus Treibstoff und Wasser. Von den vorhergehenden Erlebnissen auf der Flucht und in Libyen ganz zu schweigen. Nachdem sie von unseren Crews gerettet wurden, geht die Odyssee weiter: Tage, wenn nicht Wochen, müssen sie an Bord unser Schiffe auf einen sicheren Hafen warten – ohne Privatsphäre und mit unter 1m² Platz pro Person an Deck. Unvorhergesehene Situationen sind vorprogrammiert.
In ebenjenem Spannungsverhältnis zwischen der adäquaten Deckung von Grundbedürfnissen und dem Umgang mit unerwarteten Situationen arbeiten unsere Gastkoordinator:innen. Wichtigste Grundlage um diesen Spagat zu meistern ist, dass alle automatisier- und planbaren Prozesse zunächst gut durchdacht und möglichst zeitsparend umgesetzt werden. Ansonsten wird wertvolle Zeit verschwendet, die andernorts fehlt. Auch so trivial erscheinende Vorgänge wie die Zubereitung von Babymilch bergen enormes Potential, um wertvolle Arbeitszeit zu schlucken.
Um dies zu verhindern ist es für unsere Gastkoordinator:innen zunächst ausschlaggebend zu verstehen, welche Personengruppen sich mit welchen Bedürfnissen an Bord befinden. Ein großer Teil der Geretteten sind Frauen, minderjährige Flüchtende sowie Frauen mit Kindern. Babys unter sechs Monaten stellen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Deswegen mussten unsere Crews sich in Vergangenheit die Frage stellen: Wie meistern wir die enorme organisatorische Aufgabe, die darin besteht, unsere kleinsten Gäste an Bord bestmöglich zu versorgen?
Doch wieso ist die Versorgung von Babys überhaupt eine solche Herausforderung? Zunächst erfordert die richtige Zubereitung von Babyfläschchen einiges an Arbeit, Zeit und Wissen. Das Sterilisieren, Zubereiten und Abkühlen kann bis zu 45 Minuten in Anspruch nehmen – Zeit, in der die restliche Crew damit umgehen muss, dass sich ein Crewmitglied weniger an Deck befindet.
Dieser soll den Druck von der Schiffscrew nehmen, sich in der Situation selbst eine Lösung für die Zubereitung von Babymilch zu überlegen – denn dafür ist während einer Rettungsmission schlichtweg keine Zeit.
Das Fundament für die bestmögliche Versorgung von Babys besteht zunächst aus klarer Kommunikation: Die Thematik wird deutlich gegenüber allen Personen an Bord angesprochen, sodass kein Baby übersehen wird und alle über den Ablauf informiert sind. Nachdem alle geretteten Personen an Bord gebracht wurden, klären die Mediziner:innen mit den Müttern ab, ob sie ihr Baby stillen können und möchten, und füllen anschließend die sogenannte Babyliste aus: Alter, die Menge an Babymilch sowie die richtige Frequenz für das Fläschchen werden festgestellt. Zudem wird ein Ort an Deck vereinbart, wo die Fläschchen zu einer bestimmten Zeit an die Eltern übergeben werden.
Um dieses organisatorische Problem zu lösen und die bestmögliche Versorgung von Kindern unter sechs Monaten an Bord unserer Schiffe zu ermöglichen, haben unsere Gastkoordinator:innen in Zusammenarbeit mit unseren Mediziner:innen einen Handlungsleitfaden entwickelt.
Anschließend wählen die Gastkoordinator:innen zwei Crewmitglieder aus, die während der Mission für die Ausgabe der Babymilch zuständig sind und geben eine umfassende Einführung in die Thematik. Das eine Crewmitglied ist vormittags, das andere nachmittags dafür verantwortlich, dass die Babys ihre Fläschchen im richtigen Intervall bekommen.
Indem immer die gleichen Personen die Aufgabe erfüllen, wird sichergestellt, dass mit der Zeit die Milch so schnell wie möglich gekocht wird. Denn die Crewmitglieder werden durch Kompetenzaufbau und gesammelte Erfahrungswerte Stück für Stück zu Babymilchexpert:innen. Würde die Milch immer von einem anderen Crewmitglied zubereitet werden, würde dies deutlich mehr Ressourcen erfordern, denn jede:r müsste sich aufs Neue einarbeiten. Durch den klaren Übergabeort an die Eltern wird zudem weitere wertvolle Zeit gespart, die früher damit verbracht wurde, die Eltern mit ihren Babys ausfindig zu machen.
Die gesparten zeitlichen Ressourcen stehen so für andere Herausforderungen zur Verfügung: Wie kann man 80 bis 90 kg Reis für die Gäste an Bord kochen? Wie kommen unsere Gäste mit etwa 0,5 bis 1m² Platz zum Schlafen zurecht? Wie schaffen wir es, medizinische Grundbedürfnisse zu erfassen? Und wie gehen wir mit all den unvorhersehbaren Situationen um, die aufgrund des Mangels an Platzes und Privatsphäre entstehen?
Ein Einsatz ist oftmals ein Ausnahmezustand. Keine Planung der Welt kann einen auf alles, was passieren kann, vorbereiten. Doch dank guter, minutiöser Vorbereitung von Teilaspekten wie der Babynahrung können zumindest erwartbare Aufgaben möglichst ressourcensparend bewerkstelligt werden. So entstehen Ressourcen für alles, was nicht vorhergesehen werden und worauf unsere Gastkoordinator:innen spontan in der Situation reagieren müssen.