Flucht ist kein Verbrechen! Um diesem Statement mehr Nachdruck zu verleihen, hat Sea-Watch am Weltflüchtlingstag, den 20. Juni 2017, zu einem öffentlichen Austausch nach Berlin eingeladen. Verschiedene Gäste brachten auf dem Podium ihre Perspektive zur Kriminalisierung von Flucht und Migration ein. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis kamen zu einem ähnlichen Schluss: Die Politik der EU lässt die Zivilgesellschaft mit der Versorgung von Flüchtenden zu sehr im Stich. Um diesen Missstand zu beheben, wurde auf der Konferenz eine Petition gestartet, die die Bundesregierung dazu auffordert, die Kooperation mit der Libyschen Küstenwache an klare Standards für Menschenrechte zu knüpfen. Immer wieder kamen auf der Konferenz jene Vorfälle zur Sprache, bei denen Mitglieder dieser EU-finanzierten Küstenwache Flüchtende und Retter*innen in Lebensgefahr brachten: https://sea-watch.org/petition-eu-finanzierte-gewalt-gegen-fluechtende-durch-die-libysche-kuestenwache-beenden/
In einer Pressekonferenz am Vormittag kommentierte Dr. Violeta Moreno-Lax, Dozentin für Asyl- und Migrationsrecht an der Queen Mary Universität London, die aktuellen Vorwürfe gegen SAR NGOs und die Situation in Libyen. Da Libyen als ‚Failed State‘ gilt, wäre selbst mit politischem Willen derzeit keine libysche Regierung in der Lage, Menschenrechte durchzusetzen. Dementsprechend kritisierte Moreno-Lax den Versuch der Europäischen Union, Verantwortung an libysche Behörden abzugeben. Sie befürwortete die Forderungen von Sea-Watch, nicht nur die aktuelle Diffamierungskampagne zu enden, sondern auch NGOs beim Ausführen ihrer Arbeit zu schützen, die durch die sogenannte Libysche Küstenwache extrem behindert wird.
Um 14:00 wurde die Konferenz offiziell durch Sea-Watch Geschäftsführer Axel Grafmanns eröffnet. Dabei verurteilte er die aktuelle Politik der Kriminalisierung, Abschottung und Externalisierung. Europa träge eine Mitschuld an den Fluchtursachen: „Indem Flucht kriminalisiert wird, indem Grenzen externalisiert werden, indem wir nach außen verschieben, Mauern und Zäune bauen, NGOs kriminalisieren, wird sich aus der Verantwortung gestohlen für das Leid und Elend, das weltweit auch von uns verursacht worden ist.“
Im darauffolgenden Redebeitrag beleuchtete Dr. Moreno-Lax die Situation im Mittelmeer und die Konsequenzen der EU-Politik. „Es ist merkwürdig, dass das Mittelmeer das am meisten überwachte Meer und gleichzeitig die tödlichste Grenze der Welt ist.“ Seitdem die italienische Rettungsoperation Mare Nostrum beendet und durch eine gemeinsame Operation aller EU Mitgliedstaaten ersetzt wurde, werden von offizieller Stelle etwa 10 Mal weniger Menschen gerettet. Die EU Operationen, inklusive der Operation Sophia, haben den vordergründigen Auftrag, die Grenzen zu sichern, nicht Menschenleben zu retten, was sich in den gestiegenen Totenzahlen wiederspiegelt. Dies sei um so verwerflicher, da Europa eine der wohlhabendsten Regionen weltweit ist und für viele Fluchtursachen direkt verantwortlich ist. Dr. Moreno-Lax sprach sich auch gegen die Kriminalisierung von Flüchtenden aus. Da es derzeit keine legalen Einreisewege für Asylsuchende gibt, die von ihrem Recht auf Asyl Gebrauch machen möchten, werden Flüchtende zwangsläufig zu „illegalen Einwanderern“.
Ihr Nachredner Stefan Schmidt, berühmt geworden als Kapitän der Cap Anamur, kritisierte ebenfalls die Kriminalisierung von Helfern, die er auch selbst erfahren hat. Weil er im Jahr 2004 schiffbrüchige Flüchtende auf seinem Schiff in einen italienischen Hafen brachte, wurde er von den lokalen Behörden eine Woche lang inhaftiert und angeklagt. Der Freispruch folgte erst fünf Jahre später. Die Rettung von Menschen in Seenot sei weiterhin nicht nur eine moralische Pflicht, sondern ein Gesetz. „Es handelte sich bei der Cap Anamur um einen politischen Fall…und nicht um einen juristischen.” Er verurteilte die Kooperation mit repressiven Regimen: „De Maiziere sagt: Wir haben die Flüchtlingskrise im Griff. Die Wahrheit ist: Es wird mit Diktatoren in Afrika verhandelt, als wären Flüchtlinge Kriminelle, vor denen Grenzen geschützt werden müssen.“
Elizabeth Ngari ist Mitbegründerin der Organisation Women in Exile, die sich aus einer feministischen Perspektive für Empowerment von und für geflüchtete Frauen einsetzt. Frauen sind auf der Flucht besonders schutzbedürftig – und die Gefahr der sexuellen und körperlichen Gewalt endet leider allzu oft nicht, wenn sie ein Aufnahmelager in Europa erreicht haben. In solchen Fällen erfahren geflüchtete Frauen keine Unterstützung vonseiten des deutschen Rechtssystems. „Sie bekommen zu hören: ‚Komm wieder, wenn es noch einmal passiert‘. Die deutsche Regierung schützt Flüchtlingsfrauen nicht.“ Ngari beschrieb den Fall einer Frau aus Eritrea, die sich das Leben nahm, weil sie die Situation nicht länger ertrug. Laut Ngari sei diese Gewalt eine direkte Konsequenz der Lagerstrukturen und einer rassistisch motivierten Asylpolitik. Moderator Abdou Rahime Diallo forderte auf Ngaris Beitrag hin alle Teilnehmenden zu einem gemeinsamen Schweigemoment auf: „Wir sollten uns die Zeit nehmen, aufzustehen für die Rechte geflüchteter Frauen!“
Der nächste Input stammte von Aurélie Ponthieu, einer humanitären Spezialistin für Flucht und Migration der Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Sie betonte die strukturelle Dimension der Gewalt und dass die lebensgefährliche Situation im Mittelmeer politisch bewusst herbeigeführt sei. Die EU verwende ein Vokabular von Verbrechensbekämpfung: „Die EU ist besessen mit einer bestimmten Art von Verbrechen, mit Schleppern und Schmugglern. Sie befasst sich nicht mit der Gewalt von Grenzschutztruppen und der Misshandlung von Flüchtenden.“ Die Gefahr von Kriminalisierung und Strafverfolgung sei stets präsent. Ponthieu betonte auch, dass private Helfer und Seenotretter oft stärker unter staatlichen Repressionen zu leiden haben als Mitglieder einer großen NGO wie Ärzte ohne Grenzen.
Im anschließenden Panel mit Ponthieu und Frank Dörner, einem Vorstandsmitglied und Mitbegründer von Sea-Watch, ging es erneut um den fehlenden politischen Willen, Seenotrettungsinitiativen in ihrer Arbeit zu unterstützen. Dörner betonte, dass die NGOs hier staatliche Aufgaben erfüllen. „Die aus unmittelbarer Seenot geretteten Menschen werden oft an Bord der Sea-Watch mit uns tagelang allein gelassen – und das ist Absicht!“ Dies sehe man auch daran, dass das Sea-Watch Aufklärungsflugzeug Moonbird ständig nicht registrierte Boote entdeckt, und das trotz des weitläufigen Einsatzes modernster Überwachungstechnik im Mittelmeer. Dörner forderte ein staatliches Rettungssystem und legale Einreisewege, wodurch nicht nur das Sterben beendet werden könnte, sondern auch das Geschäft der Schlepper sofort wegbrechen würde. Auf Nachfrage betonten Ponthieu und Dörner, dass die Situation im Mittelmeer eine Folge von strukturellem Rassismus ist. „Wenn europäische Leben in Gefahr sind, werden Hebel in Bewegung gesetzt, um diese zu retten. Wenn Migranten und Migrantinnen auf dem Meer in Gefahr sind, interessiert das keinen Menschen. Hier wird ganz klar eine rassistische Politik gemacht“, so Dörner.
Der Saal im Ballhaus war von Anfang bis Ende voll besetzt und bei einem hervorragenden Soli-Catering in den Pausen boten sich viele Gelegenheiten zur Vernetzung unter den Teilnehmenden. Diese vielfältige Konferenz brachte Aktivist*innen, Akademiker*innen und Seefahrer*innen aus verschiedenen Ländern zusammen, um Flucht aus theoretischen und praktischen Perspektiven zu betrachten und besser zu verstehen. Eines bleibt aber klar, auch wenn noch nicht im aktuellen politischen Diskurs: Egal woher Menschen kommen und wohin sie gehen, ist Flucht kein Verbrechen. Deshalb setzen Sea-Watch und die anderen zivilen Retter*innen die Arbeit an Europas Grenzen fort. Unsere Crews wissen: Auf dem Mittelmeer ist jeder Tag Weltflüchtlingstag.
Bericht: E. Schaumanns
Fotos: Lynn Zapp