Sieben Jahre auf See. Kein Land in Sicht. Quo vadisLateinisch: „Wohin gehst du“, Sea‑Watch?
Als wir im Juni 2015 zu unserem ersten Rettungseinsatz ins zentrale Mittelmeer aufbrachen, hätte niemand geahnt was für eine Odyssee uns bevorsteht: Von politischen Blockaden in Deutschland, Italien, Malta und den Niederlanden über Konfrontationen mit einer angeblichen libyschen Küstenwache. Teils wochenlange Kämpfe um die sichere Anlandung Überlebender bis hin zu einer globalen Pandemie, welche unsere Arbeit massiv erschwerte.
Während auf politischer Seite auf kaum etwas Verlass war – oder ist – manövrierten unsere Schiffe uns sicher durch jede noch so schwere See. Durch sie war es uns möglich, inmitten des bodenlosen Desasters der europäischen Ausgrenzungspolitik, rund 45.000 MenschenDurch unsere aktuellen Einsätzen konnten wir in den letzten Monaten noch mehr Menschen vor dem Ertrinken bewahren. auf ihrem Weg in ein sichereres (Über-)Leben zu unterstützen.
Wie bereits 2017 mit unserer Luftaufklärungsmission Airborne und jüngst mit unserem 14-Meter-Rettungsschiff Aurora, wollen wir in den nächsten Monaten erneut neue operative Wege beschreiten. Die erfolgreiche Übergabe der Sea-Watch 4 an SOS Humanity und der sich abzeichnende Ruhestand der Sea-Watch 3 geben uns den Raum, ein neues Kapitel in unserer Vereinsgeschichte zu öffnen. Ehe wir jedoch die großen Neuigkeiten öffentlich machen, lasst uns gemeinsam einen Blick zurück werfen – auf siebeneinhalb Jahre, fünf Schiffe und drei Flugzeuge:
#SafePassage – Sea-Watch 1 & 2
Die erste Fahrt der Sea-Watch 1, von Lampedusa in Richtung des tödlichen Grenzstreifens der Europäischen Union vor der Küste Libyens, markierte 2015 den Beginn einer Bewegung: Kurz nach uns stachen Ärzte ohne Grenzen in See. Bereits ein Jahr später würde die zivile Rettungsflotte auf 13 Schiffe anwachsen und 46.796 Menschen auf ihrem Weg nach Norden zur Seite stehen. Parallel dazu konnte unsere Schnellboot-Operation auf der griechischen Insel Lesbos, zum Abschluss des langen Sommers der Migration, rund 4.000 Flüchtende absichern und an Land begleiten.
Als der Sommer 2015 und seine Willkommenskultur sich dem Ende neigten, war auf dem zentralen Mittelmeer noch lange kein Land in Sicht: Unser ursprünglicher Plan, als wachsames Auge vor Ort ein stärkeres Eingreifen europäischer Behörden zu bewirken, ging nicht auf. Denn obwohl wir die italienische Küstenwache und EU-Militärs auf viele Boote aufmerksam machten, reichten deren Kapazitäten bei weitem nicht aus, um alle zu retten. So wurde der 100-jährige Fischkutter Sea-Watch 1, gegen die deutlich größere und einsatztauglichere Sea-Watch 2 eingetauscht.
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Gerade noch rechtzeitig. Denn das ‚humanitäre Border-Management‘ der EU wich ab 2016 Stück für Stück der organisierten Unmenschlichkeit: Militär und die europäische Grenzschutzagentur Frontex zogen sich aus der Rettung von Menschen zurück, um stattdessen, wie ein italienischer Rechtswissenschaftler später notierte, „der libyschen Küstenwache die Möglichkeit zu geben, Migrant:innen zurückzudrängen sowie NGO-Schiffe zu verfolgen und einzuschüchtern.“ Gesagt, getan: Im April 2016 enterten bewaffnete Milizen die Sea-Watch 2 und bedrohten die Besatzung. Nur wenige Wochen später gefährdeten sie das Schiff erneut, indem sie mit hoher Geschwindigkeit seinen Bug kreuzten.
Doch unsere Crews hatten bereits zu viel gesehen, zu viel erlebt, um sich jetzt unterkriegen zu lassen. Wir retteten weiter, auch als 2017 rechte Politiker:innen ihren unheiligen Kreuzzug gegen die zivile Seenotrettung begannen.
#701 Tonnen Solidarität – Bye bye, Sea‑Watch 3!
Nur einen Tag nach der Sea-Watch 1 machte sich 2015 von Malta aus ein weiteres Schiff auf den Weg ins zentrale Mittelmeer: Die Dignity 1. Zwei Jahre lang fuhr das Schiff für die spanische Sektion von Ärzte ohne Grenzen und rettete tausende Menschen aus Seenot, bevor es Mitte 2017 von uns übernommen und zur Sea-Watch 3 wurde. Bereits der erste Einsatz als Sea-Watch 3 führte Schiff und Crew in unsere erschütterndste Konfrontation mit der sogenannten Libyschen Küstenwache: Wie viele Menschen durch den brutalen Übergriff des Patrouillenbootes Ras Jadir am 6. November 2017 ums Leben kamen, können wir bis heute nicht mit Sicherheit sagen.
Triggerwarnung! Gewalt
Kaum ein halbes Jahr später begann die konzertierte Stilllegung der zivilen Rettungsflotte durch EU-Behörden: Nachdem der damalige, rechtsradikale Innenminister zum ersten Mal die Häfen Italiens für geschlossen erklärt und die Niederlande drei Rettungsschiffen ihre Flagge entzogen hatte, setzte Malta uns kurzum ganz ohne Prozess (und ohne rechtliche Grundlage) für fast vier Monate in seinem Grand Harbour fest.
Anschließend zwang der Inselstaat uns 19 Tage lang mit 32 Geretteten an Bord vor seiner Küste „herumzulungern“ (Zitat: Maltesische Küstenwache), dann folgten ähnliche Blockaden und Beschlagnahmungen in Italien. Der Höhepunkt kam Ende Juni 2019, als ein neues „Sicherheitsdekret“ des besagten italienischen Innenministers just in dem Moment die unerlaubte Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer unter Strafe stellen sollte, als die Sea-Watch 3 sich mit 52 Überlebenden an Bord eben diesen Hoheitsgewässern näherte. Unsere Kapitänin ließ sich davon nicht beeindrucken, brachte die Geretteten auch gegen den Widerstand der Behörden sicher an Land und bekam auf mehreren Ebenen der italienischen Justiz das Recht dafür zugesprochen.
Auf weitere sechs Monate Beschlagnahmung, die schließlich per Gerichtsentscheid beendet werden mussten, folgten zwei erfolgreiche Einsätze, die jeweils sogenannte “Hafenstaatskontrollen” nach sich zogen und erneut in Festsetzungen durch die Behörden aufgrund vermeintlicher technischer Mängel endeten. Dann kam 2020 die Corona-Pandemie, welche unsere Arbeit über Nacht verdoppelte. Durch stringente Sicherheitsvorkehrungen gelang es uns trotzdem, zahlreiche erfolgreiche Rettungseinsätze mit der Sea-Watch 3 zu unternehmen.
Nun nähert sich das dienstälteste Schiff der zivilen Seenotrettung seinem Ruhestand. Die letzten sieben Jahre haben ihre Spuren im 1973 gegossenen Stahl der Sea-Watch 3 hinterlassen und auch wenn wir sehr an unserer Grande Dame hängen, wird es Zeit, die Last des Lebens und des Kampfes um tausende Menschenleben von ihren Schultern zu nehmen.
Ciao, Sea‑Watch 4. Ahoi, Humanity 1!
Wie kaum ein anderes Schiff verkörpert die Sea-Watch 4 den solidarischen Geist der zivilen Seenotrettung: Initiiert und mitfinanziert vom zivilgesellschaftlichen Bündnis United 4 Rescue nahm sie mitten im dramatischen ersten Sommer der Corona-Pandemie Kurs aufs zentrale Mittelmeer. Die Message war klar und deutlich: Die neu entdeckte gesellschaftliche Solidarität darf nicht an Ländergrenzen halt machen!
In unserem ersten gemeinsamen Einsatz, bei welchem Ärzte ohne Grenzen die medizinische Notversorgung an Bord übernahm, konnten wir im August 2020 mehr als 200 Menschen aus Seenot retten und rund 150 weitere von dem überfüllten zivilen Seenotrettungsschiff Louise Michel übernehmen, und sicher an Land bringen. Anschließend fiel auch die Sea-Watch 4 einer italienischen „Hafenstaatskontrolle“ zum Opfer, gegen welche wir uns erfolgreich zur Wehr setzten.
Einige politisch motivierte Hafenstaatskontrollen und knapp 2.000 sicher an Land gebrachte Menschen später entschlossen wir uns im Mai 2022 zu einem weiteren radikal-solidarischen Schritt: Wir spendeten die Sea-Watch 4, inklusive dem Geld sie ein Jahr zu betreiben, an unsere Freund:innen von SOS Humanity.
Am 27. August brach das Schiff zu seinem ersten Einsatz als Humanity I auf und rettete in vier anspruchsvollen Einsätzen 415 Menschen aus Seenot. Ein voller Erfolg für uns alle! Denn wenn die Corona-Pandemie uns eins gelehrt hat, dann das: Krisen meistert man nicht mit Ellenbogen und Abgrenzung. Krisen meistert man gemeinsam oder gar nicht. Die Sea-Watch 4 / Humanity I zeigt, dass Solidarität nicht nur leeres Politikergerede sein muss. In der zivilen Seenotrettung ist sie gelebte Praxis.
Quo vadis? – Alle zusammen gegen die Festung Europa!
Während die EU ihre südliche Außengrenze immer weiter militarisiert und überwacht, konnten auch wir – dank eines Haufens kreativer, unnachgiebiger Aktivist:innen – in den vergangenen Jahren immer neue Mittel und Wege finden, um diesem Grenzregime Sand ins Getriebe zu streuen. Allen voran natürlich unser wohl erfolgreichster Höhenflug, unsere Luftaufklärungsmission, welche 2017 mit dem Flugzeug Moonbird zum ersten mal abhob. Mit den neuen Suchflugzeugen Seabird 1 & 2 ist unser Airborne Team mittlerweile ein elementares Standbein unseres Vereins und eine Kernressource der gesamten Seenotrettung.
Zivile Seenotretter:innen brauchen Dokumentation und technische Infrastruktur. Unser Kooperationsprojekt civilMRCC versucht deswegen einerseits all das über die Jahre gesammelte Wissen zugänglich zu machen und andererseits der ganzen Bewegung technische Mittel zur Verfügung zu stellen, um schneller und koordinierter zu handeln. Unser jüngstes Flotten-Upgrade, das Rettungsboot Aurora, wurde derweil, nach der sicheren Anlandung von 85 Menschen, erst einmal in guter Tradition von seinem Flaggenstaat Großbritannien festgesetzt. Auch wir bleiben unserer Tradition treu und werden uns dagegen zur Wehr setzen. Zudem werden wir in den nächsten Monaten einen würdigen Ersatz für die Sea-Watch 3 und eine erneuerte Solidaritätserklärung an die Menschen auf dem Meer in den Einsatz bringen!
Gleichzeitig ist Materialschlacht natürlich keine Lösung. Wie 2015 gilt auch heute noch: Zivile Seenotrettung gehört abgeschafft! Aber solange ‚unsere‘ Staaten Flüchtende und Migrant:innen wie Eindringlinge behandeln, die es ohne Rücksicht auf Verluste fernzuhalten gilt, solange stellen wir uns quer und mobilisieren Menschen und Material, um dieser Barbarei ein Ende zu bereiten.
Denn niemand sollte auf der Suche nach einem besseren Leben sterben müssen.